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den höheren Gegenden überschüttet werden, das auf ihnen wachsende 
Gras aber eine nur geringe Höhe erreicht, ist ein Abmähen derselben 
unmöglich. Das Vieh selbst muß sie abweiden. Da dieses nicht täglich 
den weiten Weg dahin und zurück machen kann, bleibt es den ganzen 
Sommer auf der Alp. Im Frühjahr zieht die Herde, festlich geschmückt 
und unter dem Jauchzen der Hirten, aus dem Thal in die Höhe und 
in dem Maße, wie der Schnee schmilzt, in immer höhere Alpen. Dort 
oben grasen die Tiere vom Morgen bis zum Abend; über Nacht sam- 
meln sie sich um die hölzerne Sennhütte. Diese dient dem Sennen 
(in den Ostalpen: der Sennerin), seinem Gehilfen und dem Viehhüter 
als Nachtherberge; zugleich ist sie Milch- und Käsemagazin und Käse- 
fabrik. Zweimal des Tages werden die Kühe gemolken, zweimal muß 
auch gekäset werden. Das ist das Hauptgeschäft des Sennen; nebenbei 
ist noch allerlei zu thun, z. B. Holz spalten, Wildheu sammeln. Grenz- 
mauern ausbessern. Steine ablesen u. s. f. Wenn der Herbst anrückt, 
so wird die Alp verlassen und das Vieh, welches nicht verkauft worden 
ist, in den Ställen des Thales überwintert. So sind die Mittelalpen 
die eigentliche Heimat der Alpenwirtschast. 
Die Hochalpen erstrecken sich von 2600 m bis zu den höchsten 
Spitzen. Hier treten uns die Alpen in ihrer Erhabenheit und Furcht- 
barkeit entgegen, hier entfaltet die Natur die ganze Fülle ihrer zaube- 
rifchen Reize, wie ihrer schaurigen Schrecknisse. 
„Es donnern die Höhen, es zittert der Steg, 
Nicht grauet dem Schützen auf schwindlichtem Weg; 
Er schreitet verwegen 
Auf Feldern von Eis; 
Da Pranget kein Frühling, 
Da grünet kein Reis." (Tell, I, 1.) 
Die Gipfel, welche meist noch kein Mensch betreten hat, ragen in 
Gestalt von Felsnadeln, Zacken und Hörnern hoch hinauf in das Reich 
des ewigen Winters. Fast das ganze Jahr hindurch schneit es hier oben, 
die kurze Wärme des Sommers ist ohnmächtig gegenüber den sich auf- 
türmenden Schneemassen, die von den Pfeilen der Sonne nur ver- 
goldet, aber nicht erwärmt werden. So bleiben die Zeichen der Herr- 
schast des Winters unverwischt; Schnee bedeckt die Höhen, nur hier 
und da ragt ein nackter Fels hervor, kein Pflanzengrün erquickt das 
Auge, keine Stimme unterbricht die eisige Stille — das ist die Re- 
gion des ewigen Schnees. Sie reicht herab bis zu der sogenannten 
Schneegrenze oder Schneelinie, einer Höhengrenze, oberhalb welcher 
aller Niederschlag in fester Form als Schnee sällt und als solcher 
niemals, auch im heißesten Sommer nicht, ganz verschwindet. Mit 
der Bezeichnung „ewiger Schnee" ist nun aber nicht gemeint, daß 
derselbe Schnee, welcher vor Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden 
aus den Hochalpen fiel, auch heute noch sich dort behaupte. Wäre 
dies richtig, so müßte sich auf den Hochgebirgen im Laufe eines Jahr- 
Hunderts schon eine weit über 100 m starke Schneemasse anhäufen, 
im _ Laufe unserer Zeitrechnung dagegen müßte ein wahres Schnee- 
gebirge entstanden sein. Dem ist aber nicht so. Die Natur hat gesorgt, 
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