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Aufopferung für diesen Zweck bis zur frohen Hingabe des Lebens: —
das allein ist Vaterlandsliebe; keineswegs aber ist Vaterlandsliebe jener
tote Gewohnheitssinn, der sich nicht von hergebrachten Formen trennen
mag, weil sie bequem sind, noch tierische Anhänglichkeit an Grund und
Boden, auf welchem man sich zuerst gefunden hat, ohne Wollen und
That. „Wo ich frei leben kann, da ist Rom", sagte Brutus; was heißt
das anders als: nicht die sieben Hügel, nicht Tiber oder diese Mauern
machen mein Vaterland, sondern der ernste eigentümliche Freisinn alter
Römerseelen; wo Römer sind, daist Rom, wo das Eigentümliche meines
Volkes ist, da ist mein Vaterland!
Dieses Eigentümliche eines Volkes aber, wie es sich im Leben des¬
selben, im Ablaufe der Zeit, geoffenbart hat im Thun und Leiden, in
Religion und Sitten, in Wissenschaft und Kunst, in Recht und Gesetz,
das berichtet die Geschichte dieses Volkes. Je lebendiger daher jemand
durchdrungen ist von den Wahrheiten, die bisher angeführt sind; je
kräftiger der Geist seines Volkes in ihm selbst lebt und arbeitet; je tiefer
wahrhaftige Vaterlandsliebe ihn beseelt, desto inniger wird er der Ge¬
schichte seines Volkes nachforschen, weil er den Geist seines Volkes er-
kennen und sehen will, aus welcher Stufe der Kultur er steht, wie
alle seine Verhältnisse geordnet sind, und wie das geworden, was ist;
unter welchen Umständen, durch welche Thaten; was gehindert, was ge¬
fördert. Und er will dieses wissen und muß es wissen, um für sein
Volk ltslcf) festen Grundsätzen leben und wirken zu können; denn ein jeder
muß ja wohl die Natur des Stoffes kennen, der ihm zur Bearbeitung
vorliegt; im menschlichen Leben aber gibt es nur einen Weg zur Er¬
kenntnis der Gegenwart, — den Weg durch die Vergangenheit. Das ist
das besondere eigene Interesse, welches die Geschichte des Vaterlandes
neben dem rein menschlichen Interesse hat, das alle Geschichte gewährt.
Europa ein Kutturgarlen
von K. Ritter.
Der Schauplatz der Völker, ihre Heimat, ihr Wohnsitz, die Gunst
oder Ungunst der Planetenstelle, die sie einnehmen, wird ein bedeutendes
Moment in ihrer Entwickelung abgeben. Wenn Asien dazu organisiert
war, die Wiege und die Urheimat des Menschengeschlechts und aller
seiner Kulturanfänge zu sein, so wurde Europa gleich bei der Erschaffung
des Planeten dazu organisiert, die große Station für das zweite Stadium
der Völkerkultur zu werden, die gegen den Westen vorrückenden, einer
frühzeitigen Entwickelung fähigen und fortdauernden Völker aufzunehmen.
Es wurde dazu befähigt, nach der alten eine keineswegs gleiche, aber
analoge gedeihliche neue Heimat zu bereiten. Ohne einen schon vor-