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Zehn Lesestücke aus der geographischen Literatur.
liegen, findet man bei Mainz erst tief unter der Sohle des Talbodens, vielleicht unter
dem Niveau des Meeresspiegels. Der Rhein hat trotz dieser Knickung, welche das
Gefälle seines ursprünglichen Bettes erlitt, seinen Platz behauptet. Aber in der ge-
waltigen Verschiedenheit des Landschaftsbildes seiner User in der tiefen Felsengasse
unterhalb Bingen und in der hoch aufgeschütteten Ebene oberhalb dieses Ortes liegt
ein unvergängliches Ergebnis dieser Krisis seiner Entwicklungsgeschichte. Ihr be-
redtes Denkmal sind die Stromschnellen des Binger Loches.
8. Die Seen der Alpen.
Von Joseph Kutzen („Das deutsche Land", 5. Aufl., Breslau 1908).
Wenn wir in den höheren Gürteln der Alpen zwischen mächtigen Gebirgsstöcken
gewandert sind, dann wieder durch öde Gebirgskessel voll Schnee, Eis und Steinen,
oder schon weiter unten zwischen Riesenwänden in dunkeln Gründen, so wächst in
uns das Gefühl der Beengung zugleich und der Sehnsucht nach Licht, Weite und
Freiheit, um so mehr, wenn uns dann nach allen Seiten der Ausgang noch verschlossen
scheint. Da auf einmal öffnen sich bei einer Wendung des Weges unverhofft die
Bergwre, Licht und Luft strömt uns in Fülle entgegen, und ein flacher, freier See-
fpiegel liegt vor uns ausgebreitet; wir jubeln ihm entgegen. Indes nicht dieser un-
erwartete Gegensatz allein ist es, der uns an den See fesselt; wir fühlen noch einen an-
deren in den beiden Elementen des Flüssigen und Festen selbst. Eben erst haben wir
weiter oben im Gebirge das erstere wütend und tobend in Wasserfällen und mit
wilden Wogen über Felsenwände herabstürzen und Geröll fortwälzen, wir haben
die jungen Alpenflüsse in übermütiger Kraftfülle ungestüm davoneilen sehen, und
jetzt im See gewahren wir das bisher so leidenschaftlich unruhige Wasser zur eben-
mäßigsten Ruhe gelangt; es bietet eine vollkommen ebene Fläche, und zwar mitten
in der Zerklüftung, Auftürmung, Überstürzung und finstern Faltung der Berge rings-
um. Schon durch diese ihre Form erscheinen uns hier die Felsen als die Vertreter
von Unruhe und leidenschaftlicher Erregung, und eine solche Vorstellung nimmt zu,
wenn wir sie von argen Wettern heimgesucht, wenn wir hastigen Fluges die Wolken
an ihnen vorüberziehen und dicke Nebel sie teilweise umlagern sehen. Dort gewisser-
maßen flüssige Ruhe und hier versteinerte Bewegung, so gewähren die Seen der
aufgeregten Seele den Dienst der Beruhigung, und sie tun dies mit einschmeichelnder
Milde. Wie besänftigend und kosend ruhen sie nicht an dem einschließenden Berge,
der, dunkelfarbig, runzlig und narbig durch seine Felsen, bärtig und haarig durch
sein Gestrüpp gleich einem rauhen, aber markigen Lebensgefährten zu ihrem Schutze
stolz aufgerichtet dasteht! Wie schmiegen sie sich munter und glatt mit ihren rund-
lichen Formen und anmutigen Bewegungen nach seinem eckigen und schroffen
Gliederbau!
So paaren sie das Milde mit dem Rauhen. Und neben dieser Sanftmut ent-
halten sie zugleich die Natur einer liebenswürdigen Erregbarkeit; denn sie sind, wie
die feineren Seelen der Frauen, so sehr befähigt, gleichsam zarte Empfindungen und
Eindrücke aufzunehmen, die an dem harten und starren Stoffe ihrer Felsen spurlos
vorübergehen. Schon von dem leisesten Windhauche wird die Oberfläche ihres Wassers
bewegt, und in gekräuselten Windungen hüpft es wie zum Tanze. Freilich steigert
sich dann und wann diese Bewegung bis zu einem erschreckenden Grade, wenn Stürme
über sie hinbrausen, als wä^e es^d^wüde^A^er mit seinem Gefolge, wenn die Wellen
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