Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft. 105
herangewachsen war und die Bedeutung des Meeres als Quelle der Völkergröße
kennen gelernt hatte, die Schöpfung einer Handelsflotte und die Gründung einer
Kolonie in Westafrika. Im Jahre 1683 wurde trotz des Einspruchs eifersüchtiger
Mächte von einem Teile der Küste Besitz ergriffen, das Fort Groß-Friedrichsburg
errichtet und verheißungsvolle Handelsbeziehungen wurden eröffnet. Aber schon
sein Nachfolger, der erste preußische König Friedrich I., hatte für diese Be-
strebungen wenig Interesse und Friedrich Wilhelm I., der Vater Friedrichs
des Großen, betrachtete vollends das ganze Kolonisationswesen als „Chimäre"
und verkaufte 1719 seinen Besitz der Holländisch-Westindischen Kompagnie für
6000 Dukaten.
Über 200 Jahre litt das deutsche Volk unter seinen unglückseligen politischen
Verhältnissen, es war meerfremd geworden und dem Rückgange des materiellen
Lebens ist der des geistigen gefolgt.
Langsam bereitete sich der Eintritt Deutschlands in die Reihe
der Welthandelsmächte vor. Der Sinn für fremdes Volkstum und fremde
Eigenart war in Deutschland immer rege, leider oft zu seinem Schaden. Durch
Männer wie Kant, Alexander von Humboldt und Karl Ritter ward Deutschland
auch das Geburtsland der wissenschaftlichen Erdkunde. Außerdem war die Kennt-
nis der fremden Sprachen bei uns allmählich zu solcher Verbreitung gelangt wie
kaum anderswo. Die unmittelbare Veranlassung zur Entwicklung der überseeischen
Interessen Deutschlands aber wurde die deutsche Auswanderung, Haupt-
sächlich nach Nordamerika. Seit dem Ansänge des 19. Jahrhunderts haben mehr
als 5 Millionen Deutsche sich neue Wohnsitze in der Fremde, hauptsächlich in
Nordamerika, gesucht, wo jetzt 10—11 Millionen Deutsche leben. Die Wirtschaft-
liche Einbuße, die unser Vaterland dadurch erlitten, ist groß. Anderseits aber
waren es in erster Linie die Verkehrsbeziehungen zu Amerika, die den Handel
unserer Hansestädte wieder emporbrachten. Auf der östlichen Halbkugel wurde
zuerst China, dann Indien erschlossen und Japan öffnete zu Beginn der 60er Jahre
seine Häfen dem deutschen Verkehr. Heute vollends umspannen die von Deutsch-
land auslaufenden Verkehrsfäden, die jetzt auch nach Australien und der Südsee
hinüberziehen, den ganzen Erdball.
Seit Beginn der 80 er Jahre ist das Deutsche Reich in die Reihe der
Kolonialmächte eingetreten, und es beherrscht heute ein Gebiet von dem Fünf-
fachen seiner eigenen Größe (23/5 Mill. qkm mit 15 Mill. Einw.); es steht
somit unter den Kolonialmächten hinsichtlich des Flächeninhalts seiner Besitzungen
schon an 3. Stelle. Das in den Schutzgebieten angelegte Kapital wird aus
370 Millionen M. geschätzt und ihre Ein- und Ausfuhrhandel betrug 1907
bereits 130 Millionen M. (ohne Kiautschou.)
Vom Gesamtwerte des deutschen Außenhandels, der 1910
die gewaltige Summe von 17^ Milliarden Mark erreicht hat, entfielen 2/3
(über 9 Milliarden M.) auf den Seehandel; außerdem wird die Summe
der deutschen Kapitalsanlagen in überseeischen Ländern auf 9 Milliarden M. ge-
schätzt und besinden sich 16 Milliarden M. ausländischer Wertpapiere in
deutschen Händen.
In Amerika besitzen die Deutschen, besonders in Mittel- und Südamerika,
bedeutende Handelsniederlassungen mit gewaltigen, oft den Wert vieler