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B. Die Kriegsschauplätze in Europa und Vorderasien,
III. Die Ostfront.
Übersicht.
Weittäumig- Das erste und beherrschende Merkmal des Ostens von Europa ist die Raumweite der
feit bes Ebene, deren Anwachsen sich bereits nach dem überschreiten der Elbe bemerkbar macht.
%?a5?saU ° Küste der Ostsee rückt nach N vor, das Mittelgebirge weicht nach 3 zurück, so daß die Eut-
sernung zwischen beiden unter 14° 0 etwa 320 km, aus dem 18. Meridian (Troppau—-Brom-
berg) bereits 540 km beträgt, bei 22° (östlich von Tilsit) auf mehr als 750 km steigt und sich
dann an der Winterfront 1915/16 vom Rigaischen Meerbusen bis gegen den Lemberger Land-
rücken auf rund 1000 km, gleich der Entfernung Eöln—Königsberg i. Pr., steigert. Von dieser
Stadt bis St. Petersburg sind es 990 Bahnkilometer, von Dünaburg ab noch rund 500, also
etwa 25 Marschtage, während Moskau, der andere schon einmal von einem westeuropäischen
Heer erreichte Zielpunkt, von Warschau 1224, von unserer Ostfront gegen 700 Bahnkilometer
abliegt. So mußte den Truppen/ die von unserer Grenze ab wochenlang marschierten
und innner wieder marschierten, das Gesühl der Unendlichkeit dieser Ebene erwachsen. Daß
in ihr der beste Schutz des Russischen Reiches liegt, ist von diesem selbst mit Zielbewußtsein
in seinen Kriegen gegen Westeuropa nicht ausgenutzt worden. Als 1709 die Heere Karls XII.
in diesen Weiten auf der Suche nach Kriegszielen ihre besten Kräfte einbüßten und schließlich
in der Ukraine scheiterten, erwuchs Peter dem Großen ungesucht das Geschenk, das ihm die
Weiträumigkeit spendete. Dem Franzo.senkaiser glaubten die Russen in Überschätzung ihrer
Heeresstärke bereits an der Grenze entgegentreten zu können, und als es Napoleon beinahe
geglückt war, sie hier abzufangen, ging es notgedrungen zurück; erst ganz allmählich dämmerte
ihnen unter der Erleuchtung von feiten preußischer Offiziere die Erkenntnis, daß die Weite
das feindliche Heer verschlingen müßte. Napoleon suchte die Raumweite durch Gewaltmärsche
zu bewältigen, aber an diesen und an der Ausgabe, sür die ganze Verpflegung in der Men-
schenleere selbst sorgen zu müssen, schmolz sein Heer zusammen. 1914 erschien das russische
Heer wiederum an den Grenzen, aber dieses Mal mit größerer Berechtigung, denn es war
wirklich fertig zum Angriff, was ihn: bis dahin zum Kriegsbeginn weder gegen Westeuropa,
noch gegen die Türkei, noch gegen Japan jemals gelungen war. So konnte es hoffen, nach
dem Bilde der Dampfwalze den Gegner zu zerquetschen; aber zun: Vorteil hat es ihm ja auch
diesmal nicht gereicht. Unsere Heeresleitung ist des Raumes Herr geworden durch metho-
disches Vorrücken aus verschiedenen Straßen mit Nachschieben von fahrbaren Wegen und
Eisenbahnen und hat dadurch die Russen anscheinend in ratlose Verlegenheit gebracht, daß
sie weiter nichts zu tun wissen, als sich in Massenanstürmen gegen die Grabenstellungen der
Verbündeten zu erschöpfen. Daß in dieser Stellung unsere Heere den russischen Winter
überstanden haben, ist eine Kriegsleistung ersten Ranges.
Grenz- Politische Grenzen durch diese Ebene zu ziehen ist leichter als ihre nachträgliche Ver-
linien. teidignng, natürliche Grenzen festzulegen kaum möglich; aber dafür darf es auch vou der
bisherigen Grenze zwischen Preußen und Rußland gelten, daß sie wenigstens nicht unnatür-
lieh ist, da sie nichts seiner Natur nach unbedingt Zusammengehöriges zerschneidet. So etwas
wie eine Natnrgrenze ist angedeutet durch die Linie von den Lemberger Höhen—Bug—mitt¬
leren Njemen, der leicht zu verteidigen ist, und eine zweite Linie kann gezogen werden durch
den Rigaischen Busen, längs des Laufes der Düna, die 1812 bis in den Winter hinein den
militärischen Grenzgraben Rußlands gebildet hat, weiter etwa über Dünaburg—Minsk, dann
die unwegsame Fläche der Poljesje mit den Pripetsümpsen, das wolynische Festungsdreieck
Rowno—Luzk—Dnbno und etwa den Seret oder die Strypa in Ostgalizien. Der nördliche
Teil dieser Scheidelinie hat 1915/16 ebenso wie 1812 militärisch als Schutz für die Russen
ausgehalten, ähnlich so der Süden, die Mitte aber wird von den Grabenstellungen der
Verbündeten durchschnitten.