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B. Die Kriegsschauplätze in Europa und Borderasien.
zwar ganz überwiegend ackerbautreibend, hat aber unter Leitung und mit dem Kapital von
Deutschen in Warschau (jetzt über 900 000 E.), Lodz (400 000 E.) und Sosnowice in der
Dreikaiser-Ecke (83 000 E.) drei höchst bedeutende gewerbliche Mittelpunkte geschaffen.
Der Pole ist unter allen slawischen Stämmen durch Charakter, Neigung und Temperament,
sodann durch die römisch-katholische Religion wie schon durch seinen Wohnsitz am meisten
nach Westen gerichtet, wenn auch in jüngster Zeit die Erwerbsverhältnisse unter dem
Einflüsse der Zollgrenze begonnen haben, ihn Rußland zu nähern. Polen gibt es in
Rußland wohl 9 Millionen, in Westpreußen, Posen und Schlesien 3,5, in Westgalizien
und seiner Nachbarschaft 5 Millionen. Im ganzen mögen zwischen 18 und 19 Millionen
vorhanden sein.
Litauer. Die Litauer bewohnen das nach ihnen benannte ehemalige Großfürstentum, das 1386
durch Heirat zwischen den Fürstenhäusern mit dem Königreich Polen vereinigt wurde, außer-
dem einen Teil von Knrland und das nördliche Polen und dringen mit 90 000 Seelen an der
Memel ins Deutsche Reich ein. In ihrer alten Hauptstadt Wilna (190 000 E.) bilden sie
nicht mehr die Mehrheit. Ihr Land entbehrt der Naturgrenzen, ihr Stamm (2| Mill.) des
Zusammenhalts. Die Litauer haben ebenso wie die Polen die Verwüstungen durch die
Schleppe des russischen Rückzuges erfahren, den Polen, als ihren ehemaligen Herren, sind sie,
Letten, obgleich zumeist auch römisch-katholisch, nicht gewogen. Die Letten (höchstens 1 Mill.), ein
arisch-finnisches Mischvolk mit deutschem Einschlag, hausen vor allem in Livland und Kurland,
von ihren Verwandten, den Litauern, trennt sie die entschiedene gegenseitige Abneigung,
und gegen ihre ehemaligen Herren, die deutschen Gutsbesitzer und Bauern, haben sie sich
in der russischen Revolution recht bösartig gezeigt, wie das zu geschehen pflegt, wenn einer
plötzlich dem, den er bisher scheuen mußte, ungestraft den roten Hahn aufs Dach setzen kann.
Trotzdem ist ihr Verhältnis zu den Deutschen nicht so hoffnungslos, und diese haben nicht
in dem Maße ihre Pflicht versäumt, den ungebildeten Stamm zu germanisieren, wie das
landläufige Urteil geht. Von den Letten sprechen viele Deutsch, und beide Volksstämme
sind, wie auch die Esten, evangelisch, wenn auch die russischen Verlockungen begonnen haben,
manche Letten in die orthodoxe Kirche zu ziehen, seitdem 1885 die lutherische zur geduldeten
herabgedrückt und die deutsche Schule russisch wurde. Um das Fortbestehen der Letten
ist es trübe bestellt, denn es kommen bei ihnen auf 20 Geburten 19 Todesfälle. — In Estland,
Esten, den: Randlande des Finnischen Busens, wohnen vor allem die Esten (1897 gegen 900 000),
ein Zweig der uralaltaischen Mongolen. Ihre Stellung gegenüber Russen und Deutschen ist
Deutsche, ganz ähnlich wie die der Letten. — Der deutsche Volksteil von Kurland, Livland und Estland
wurde 1897 auf 166 000 Seelen berechnet; aber die Zahl ist sicher viel zu niedrig, seine Sprache
überdies sehr viel weiter verbreitet, denn auch von den Juden wie den Liven und Tschuden,
einem den Esten verwandten Stamme, verstehen manche Deutsch. Außerdem sind viele
Wolga-Deutsche jüngst zugewandert und mit Erfolg angesiedelt worden. So ist der 1897
für die Deutschen ermittelte Hundertsatz der Bevölkerung höher zu beziffern, ihr Einfluß
durch Bildung, Fleiß und Wohlhabenheit jedenfalls viel weitgreifender, als bei einem An¬
teil von 9% zu erwarten wäre. Unsere Krieger sind nicht wenig überrascht gewesen, als
sie beim Einrücken in Kurland im Sommer 1915 sich plötzlich in Deutschland sahen zwischen
wohlbestellten Feldern, in reinlichen Dörfern und Städten mit dem Gepräge der Heimat,
deutsche Namen und Laute an ihr Ohr klangen und die Trümmer manch alter Burg aus den
kampferfüllten Zeiten des Schwertbrüder- und des Deutschritterordens auf sie herabblickten,
zugleich aber auch davon zeugten, daß das alte Vaterland seine Kinder immer und immer
wieder im Stiche gelassen hat. Die bange Sorge, was nun werden wird, möge der frohen
Hoffnung weichen: „Zurück ans alte Vaterland!"
Weihrussen. ' Die Weißrussen (an 5 Mill.) sitzen hauptsächlich im Stromgebiete des oberen Dnjepr,
also in den Gouvernements Mohilew und Minsk, sind aber auch in dem von Wilna stark
oertreten, bewohnen demnach wie die Litauer eine Binnenlandschaft ohne deutliche Gren-
zen und waren wie diese einst Angehörige des Großpolnischen Reiches. Dennoch sind sie