Full text: (Sechstes und siebentes Schuljahr) (Teil 3 für Kl. 4 u. 3)

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der ungarische Sonnenschein einen sanften Rosenschimmer. Sie setzte sich 
nachher an ein kleines, dünnstimmiges, heiseres Klavier und sang mit 
anmutigem Ausdruck Volkslieder. 
Nachher saßen wir behaglich um den Tisch und plauderten bei einer 
Zigarre. Ich fragte Hühnchen nach seinen geschäftlichen Verhältnissen. 
Ich erfuhr, daß sein Gehalt bewunderungswürdig klein war, und daß er 
dafür ebenso bewunderungswürdig viel zu tun hatte. „Za, früher, in der 
sogenannten Gründerzeit," sagte er, „da war's besser, da gab's auch 
mancherlei Nebenverdienst. Wir gehen alle Jahre zweimal ins Opernhaus 
in eine recht schöne Oper, und damals haben wir uns gar bis in den 
zweiten Rang verstiegen, wo wir ganz stolz und preislich saßen und vor¬ 
nehme Gesichter machten und dachten, es käme wohl noch einmal eine Zeit, 
da wir noch tiefer sinken würden, bis unten ins Parkett. Es kamen aber 
die sogenannten schlechten Zeiten, und endlich ereignete es sich, daß unser 
Chef einen Teil seiner Beamten entlassen und das Gehalt der andern 
bedeutend kürzen mußte. Ja, da sind wir wieder ins Amphitheater empor¬ 
gestiegen. Im Grunde ist es fa auch ganz gleich. Und glaube nur nicht, 
daß dort oben keine gute Gesellschaft vorhanden ist. Dort habe ich schon 
Professoren und tüchtige Künstler gesehen. Dort sitzen oft Leute, die 
mehr von Musik verstehen als die ganze übrige Zuhörerschaft zusammen¬ 
genommen." 
Es war elf Uhr, als ich mich verabschiedete. Zuvor wurde ich in 
die Schlafkammer geführt, um die Kinder zu sehen, die in einem Vettchen 
lagen in gesundem, rosigem Kinderschlaf. Hühnchen strich leise mit der 
Hand über den Rand der Bettstelle. „Dies ist meine Schatzkiste," sagte 
er mit leuchtenden Augen, „hier bewahre ich meine Kostbarkeiten — alle 
Reichtümer Indiens können das nicht erkaufen!" 
Als ich einsam durch die warme Sommernacht nach Hause zurückkehrte, 
war mein Herz gerührt, und in meinem Gemüt bewegte ich mancherlei 
herzliche Wünsche für die Zukunft dieser glücklichen Menschen. Aber was 
sollte ich ihnen wünschen? Würde Reichtum ihr Glück befördern? Würde 
Ruhm und Ehre ihnen gedeihlich sein, wonach sie gar nicht trachteten? 
„Gütige Vorsehung," dachte ich zuletzt, „gib ihnen Brot und gib ihnen 
Gesundheit bis ans Ende — für das übrige werden sie schon selber 
sorgen! Denn wer das Glück in sich trägt in still zufriedener Brust, der 
wandelt sonnigen Herzens dahin durch die Welt, und der goldene 
Schimmer verlockt ihn nicht, dem die andern gierig nachjagen; denn 
das Köstlichste nennt er bereits sein eigen."
	        
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