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6. Didaktisch epische Poesie. XIH. Spruchdichtung.
Eins empöret sein Gefühl:
Fremder Rechte loses Spiel.
Ewig bleiben die uns fern,
Ehr' und Freiheit unser Stern!
XIII. Spruchgedichte (Gnomen).
132. Vierzeilen. (Um 1820.)
Von Friedrich Rückert. Gesammelte Gedichte. Erlangen, 1839.
1. Sieh, der Schöpfung Rosenbeet
Wird nie von Gewächsen leer;
Wenn von hinnen eines geht,
Kommt das andre frisch daher.
2. Die Rose stand im Tau,
Es waren Perlen grau.
Als Sonne sie beschienen,
Wurden sie zu Rubinen.
3. Wenn die Wässerlein kämen zu Haus,
Gäb' es wohl einen Fluß;
Weil jedes nimmt seinen eignen Lauf,
Eins ohne das andre vertrocknen muß.
4. Die Schönheit der Welt steht groß
und nah
Vor des Menschen natürlichen Augen da;
Du brauchst nicht, um sie zu ergreifen,
Fernrohr und Kleinsehglas zu schleifen.
5. Willst du, daß wir mit hinein
In das Haus dich bauen,
Laß es dir gefallen, Stein,
Daß wir dich behauen.
6. Mal' innen deine Zimmer aus,
Daß sich daran dein Aug' erquicke;
Laß außen ungeschmückt dein Haus,
Daß es nicht reize Feindesblicke!
7. Nicht der ist auf der Welt verwaist,
Dessen Vater und Mutter gestorben,
Sondern der für Herz und Geist
Keine Lieb' und kein Wissen erworben.
8. Thu, was jeder loben müßte.
Wenn die ganze Welt es wüßte;
Thu es, daß es niemand weiß,
Und gedoppelt ist sein Preis.
9. Die Dankbarkeit ist eine schwere Last.
Wenn du sie einem auf willst legen,
So thu's mit aller Milde, die du hast,
Daß er dir ja nicht werde gram des¬
wegen.
10. Es fällt dem Esel freilich schwer,
Die falsche Löwenhaut zu tragen;
Allein es reizt ihn gar zu sehr,
Seinesgleichen Ehrfurcht einzujagen.
11. Das sind die Weisen,
Die durch Irrtum zur Wahrheit reisen;
Die bei dem Irrtum verharren,
Das sind die Narren.
12. Was du Jrd'sches willst beginnen,
heb' zuvor
Deine Seele im Gebet zu Gott empor!
Einen Prüfstein wirst du finden im Gebet,
Ob dein Jrd'sches vor dem Göttlichen
besteht.
133. Angereihte Perlen. (Um 1820.)
Von Friedrich Rückert. Gesammelte Gedichte. Erlangen, 1839.
1. O blicke, wenn den Sinn dir will die Welt verwirren,
Zum ew'gen Himmel auf, wo nie die Sterne irren!
2. Es weichen Sonn' und Mond einander freundlich aus;
Selbst ihnen wäre sonst zu eng ihr weites Haus.
3. Wenn dir in Zornesglut dein sterblich Herz will wallen,
Sag' ihm: Weißt du, wie bald du wirst in Staub zerfallen?
4. Zum Feinde sag': Ist Tod uns beiden nicht gemein?
Mein Todesbruder, komm und laß uns Freunde sein!
5. Du wirst nicht musterhaft durch Jagd nach andrer Fehlern,
Und nie wirst du berühmt durch fremden Ruhmes Schmälern