Full text: Deutsche Kulturgeographie

30. Die deutsche Auswanderung. 169 
uns bereits das erste Jahrhundert nach Christi Geburt. Diese 
Wanderungen nahmen an Größe und Zahl im vierten und 
fünften Jahrhundert, also in der Zeit der sogenannten Völker- 
rvanderung, erheblich zu. Deutsche Völkerschaften fluteten nicht 
bloß durch Gallien, Italien und Spanien, sondern sogar über die 
Meerenge von Gibraltar hinrveg nach dem mittelmeerischen Rand 
Afrikas. Die Völkerwanderung ist natürlich nur im weitesten 
Sinne des Wortes als Auswanderung Deutscher in Betracht zu 
ziehen, wenn auch ihr Grundmotiv dasselbe war, das in allen 
folgenden Perioden deutscher Auswanderung zu beobachten ist: 
der Wunsch nach Verbesserung der eigenen Lebens- und Erwerbs- 
Verhältnisse im Auslande. Viele Gegenden, die in der Völker- 
Wanderung von deutschen Stämmen entblößt worden waren, 
wurden von slavischen Völkerschaften besetzt; so kam es, daß zur 
Zeit Karls des Großen sämtliche Lande nördlich und östlich 
der Elbe, Saale, Regnitz, Donau und Ems sich in außerdeutschen 
Händen befanden. Zwei Jahrhunderte vergingen, ehe die deutsche 
Kolonisation des einstigen deutschen Ostens und angrenzender 
Gebiete wieder vor sich ging. Besonders zeitigte das 13. Jahr- 
hundert die Früchte einer hervorragenden kolonisatorischen 
Periode, denn die blutigen Kämpfe, die Heinrich I., Otto I., 
Friedrich Barbarossa, Heinrich der Löwe, Albrecht der Bär, die 
Wettiner und der deutsche Orden mit den Slaven jenseit der 
Elbe und Saale führten, hatten auch die Besiedelung dieser in 
heißem Ringen erworbenen Landstriche durch deutsche Bauern, 
die Anlage deutscher Städte und damit die Umwandlung der 
völlig slavisch gewordenen Ostmarken in deutsche Gaue zur Folge. 
Durch diese Kolonisation wurden reichlich drei Fünftel der heutigen 
deutschen Lande dem alten Deutschland der Karolinger hinzugefügt 
und „durch sie erhielt Deutschland für seine zentrale Lage einen 
ausreichend widerstandsfähigen Körper," wie von der Ropp 
über die deutschen Kolonien im 12. und 13. Jahrhundert aus- 
führt. Zu jenen Zeiten war Deutschland ein machtvoll gebietender 
Staat, in dem die deutsche Volkskraft herrlich emporblühte. Stolzer 
hat kein Dichter je sein Vaterland gerühmt, als damals unser 
Walther von der Vogelweide Deutschlands Ehre, deutsche 
Männer und deutsche Frauen pries. 
Die europäischeMitte hatte für die deutschen Völker den 
verschiedenartigsten Einfluß (vgl. S. 10 ff.). Sie wurde zunächst 
der Schauplatz großer Kämpfe, auf dem die Deutschen mit Slaven, 
Hunnen, Magyaren und Mongolen in Berührung kamen. Die 
Kämpfe wiederholten sich Ende des 18. Jahrhunderts. Es gibt 
tatsächlich kein deutsches Grenzgebiet, das nicht in fremden Händen 
gewesen wäre, viele von ihnen sogar öfters und lange. Die 
europäische Mitte, also Deutschland, wurde auch der Tummelplatz 
all' der konfessionellen Streitigkeiten des Mittelalters und der 
neuern Zeit. Deutsche Bruderstämme kämpften gegeneinander, 
sie zerfleischten sich selbst und zerklüfteten das deutsche Vater¬
	        
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