Full text: Lesebuch nebst fachkundlichen Anhängen für Fortbildungs-, Fach- und Gewerbeschulen

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zu sehen. Ich sah mich verwundert um und war im Begriff, 
auf die Straße zurückzugehen, als sich die Hintertür öffnete 
und mein Vater mit einer Last von Eisen hereintrat. Jetzt 
war all mein Kummer überwunden, und ich war meines Ge¬ 
mütes Herr. Als er seine Last abgesetzt hatte, trat ich auf 
ihn zu, grüßte mit dem Handwerksgruße und fragte an, ob er 
einen Gesellen brauche. Ihr kommt wie gerufen, antwortete 
er, ohne daß er sich Zeit nahm, mich genau anzusehen; und 
wenn ihr noch ein halbes Dutzend solcher Burschen, wie ihr 
seid, mitgebracht hättet, sie sollten bei mir arbeiten. 
Mein Vater war in meiner Abwesenheit merklich gealtert, 
sein weißes Haar hing dünn um seine Stirn und Schläfe; aber 
es war in seiner Stimme und seinem ganzen Wesen eine muntere 
Fröhlichkeit, die mir ganz fremd an ihm war. Nun, legt euer 
Bündel ab, setzte er hinzu, und zeigt mir eure Kundschaft 
vor, und wenn ihr gute Zeugnisse mitbringt, so soll euch die 
Meisterin zurechtweisen. Mein Herz pochte mir bis an die Kehle 
hinauf. Ich hörte jetzt, daß meine Mutter noch lebte; aber ich 
konnte nicht reden sondern packte stillschweigend meine Kund¬ 
schaft aus und reichte sie dem Meister hin. 
Mein Vater zog bedächtig seine Brille aus der Tasche, 
nahm sie aus dem Futteral, setzte sie auf, schlug dann die 
Kundschaft auseinander und las. Ich zitterte voll Erwartung 
und Freude. 
Als mein Vater meinen Namen las, schien er bestürzt; 
dann sah er mich an, erkannte mich, ließ die Kundschaft auf 
die Erde fallen, ging zur Hintertür hinaus und rief meine 
Mutter. 
Ich wollte ihm nach; aber er kam sogleich zurück, faßte 
mich bei der Hand und sagte: Willkommen, Philipp! Gott sei 
gedankt, du bist zur guten Stunde gekommen. Diese Hände 
haben lange gefeiert; aber morgen, so Gott will, wollen wir 
arbeiten. 
Die Mutter nahte jetzt der Tür; ich hörte ihre Fußtritte 
und machte eine Bewegung, ihr entgegenzugehen. Aber mein 
Vater hielt mich mit der Hand zurück, wandte sich nach meiner 
Mutter und sagte, als sie hereintrat: Gott sorgt für uns, Mutter. 
Die Werkstätte ist kaum geöffnet, so fragt dieser wackre Gesell 
nach Arbeit vor. Mache ihm eine Kammer zurecht und gib 
ihm zu essen. Ich denke, er soll uns für zwei arbeiten. 
Die Meisterin nannte mich willkommen und reichte mir 
die Hand. Da war ich nun meiner nicht mehr Herr. Ich zog 
sie an mich, fiel ihr um den Hals und sagte: Mutter, kennt ihr 
mich nicht? Da schob sie mich leise zurück, sah mich an, fiel
	        
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