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Arbeit genug und doch kein Geld — aber einen frohen, heitern Sinn,
ein Gemüth treu und köstlich wie Gold, und mitten in Asien deutsches
Blut, rheinländische Gastfreundschaft.
Im Jahre 1812, als Rußland nimmer Straßen genug hatte für
die .Kriegsgefangenen an der Beresina oder in Wilna, ging eine auch
durch Pensa, welches für sich schon mehr als einhundert Tagereisen weit
von Lahr oder Pforzheim entfernt ist, und wo die beste deutsche oder
englische Uhr, wer eine hat, nimmer geht wie daheim, sondern um ein
paar Stunden zu spät. In Pensa ist der Sitz des ersten russischen Statt¬
halters in Asien, wenn man von Europa aus hereinkommt. Also wurden
dort die Kriegsgefangenen abgegeben und dann weiter abgeführt in das
tiefe, fremde Asien hinein, wo die Christenheit ein Ende hat, und niemand
mehr das Vaterunser kennt, wenn's nicht einer gleichsam als eine fremde
Waare aus Europa mitbringt.
Also kamen eines Tages, mit Franzosen untermengt, auch sechzehn
Rheinländer, badische Offiziere, die damals unter den Fahnen Napoleon's
gedient hatten, über die Schlachtfelder und Brandstätten von Europa,
ermattet, krank, mit erfrornen Gliedmaßen und schlecht geheilten Wun¬
den, ohne Geld, ohne Kleidung, ohne Trost, in Pensa an und fanden
in diesem unheimischen Lande kein Ohr mehr, das ihre Sprache verstand,
kein Herz mehr, das sich über ihre Leiden erbarmte. Als aber einer den
andern mit trostloser Miene anblickte: Was wird aus uns werden? —
oder: Wann wird der Tod unserem Elende ein Ende machen? — und:
Wer wird den letzten begraben? — da vernahmen sie, mitten durch das
russische und kosakische Kauderwelsch, wie ein Evangelium vom Himmel,
unvermuthet eine Stimme: „Sind keine Deutsche da?" — Und es stand
vor ihnen aus zwei ganz gleichen Füßen eine liebe, freundliche Gestalt,
das war der Schneider von Pensa, Franz Anton Egetmaier, gebürtig
ans Breiten im Neckarkreise des Großherzogthums Baden.
Hat er nicht im Jahre 1799 das Handwerk gelernt in Mannheim?
Hernach ging er aus die Wanderschaft nach Nürnberg, hernach ein wenig
nach Petersburg hinein? Ein deutscher Schneider schlägt sieben- bis
achtmal hundert Stunden Weges nicht hoch an, wenn's ihn inwendig
treibt. In Petersburg aber ließ er sich unter ein russisches Kavallerie¬
regiment als Regimentsschneider aufnehmen und ritt mit ihm in die
fremde, russische Welt hinein, wo alles anders ist, nach Pensa, bald mit
der Nadel stechend, bald mit dem Schwerte. In Pensa aber, wo er sich
hernach häuslich und bürgerlich niederließ, ist er jetzt ein angesehenes
Männlein. Will jemand in ganz Asien ein sauberes Kleid nach der
Mode haben, so schickt er nach dem deutschen Schneider in Pensa; ver¬
langt er etwas von dem Statthalter, der doch ein vornehmer Herr ist
und mit dem Kaiser reden darf, so hat's ein guter Freund vom andern
verlangt, und hat auf dreißig Stunden Weges ein Mensch ein Unglück
oder einen Schmerz, so vertraut er sich dem Schneider von Pensa an, ec
findet bei ihm, was ihm fehlt, Trost, Rath, Hilfe, ein Herz und ein
Auge voll Liebe, Obdach, Tisch und Bett, nur kein Geld.
Einem Gemüthe, wie dieses war, das nur in Liebe und Wohlthun
reich ist, blühte auf den Schlachtfeldern des Jahres 1812 eine schöne
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