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184. Thüringen und seine Bewohner. 
Das Reich der Thüringer reichte einst vom Main bis zur Elbe und Havel; 
das heutige Thüringen, das thüringer Becken dagegen liegt zwischen dem Harz und 
dem Thüringer Wald, der Leine und der Saale. Es besteht dasselbe aus einer Ver¬ 
einigung mehrerer kleiner Becken, welche durch Hügelketten oder flache Plateau's 
von einander getrennt sind. Im Mittel erhebt es sich etwa 600 bis 700 Fuß über 
den Meeresspiegel, an seinen höchsten Stellen (z. B. in Ettersberg) 1440 Fuß, 
während Halle nur noch 280 Fuß hoch liegt.^ Nächst der Saale und Leine ist die 
wilde und ausgelassene Unstrut unter den Flüssen des Landes zu nennen. Die 
meisten Gewässer fließen der Saale zu, ivenigere der Werra und Leine. Beide 
Flußgebiete sind aber durch keinen auffallenden Höhenzug von einander getrennt, 
sondern in Gotha beinahe ursprünglich und künstlich durch den Leinekanal mit ein¬ 
ander verbunden. Thüringen ist die Grenze des Südens und Nordens. Sandige 
Ebenen wagen sich an die fruchtbarsten Partieen Thüringens heran; ohne Uebergang 
geräth man in den Segen des Landes, das von jeher der Höhenpunkt Obersachsens 
war. Hinter dem Thüringer Walde — eine Mauer aus Wald und Fels, oder viel¬ 
mehr ein Meer von Bergen, die wie Wellen über einander liegen, als könnte inan 
von der einen Höhe auf die andere hüpfen, aber unbeweglich, ein grün verwachsenes 
Meer — liegt Franken mit seinen fruchtbaren Ebenen, und weiter und immer weiter¬ 
verbreiten sich die Mannigfaltigkeiten der südlichen Natur. 
In geognostifcher Hinsicht ist das Becken Thüringens eine wahre Musterkarte 
von Gesteinen. 
Die Gesammtheit der Bevölkerung lebt in der Thüringer Mulde vorzugsweise 
vom Feldbaue. Wald- und Bergbau sind untergeordnet, ebenso Fabrikwesen und 
Handel. Der Hauptverkehr geht in ostwestlicher Richtung durch das Becken, er ist 
gegenwärtig durch eine Eisenbahn gefesselt. Die vielen kleinen Haupt- und Residenz¬ 
städte haben eine große Zersplitterung des Verkehrs bedingt, aber sicher auch sehr 
zur Ausbildung des Lebens beigetragen. Die Theilung und maßlose Zersplitterung 
des Grundeigenthuins tritt in 'einein großen Theile Thüringens noch weit greller 
in den Feldgrundstücken der Bauern hervor; diese sind oft bis auf wenige Fußbreite 
Streifen unter die Erben getheilt worden, und es kommt dazu noch eine dem Feld¬ 
baue ungünstige Bauart der meisten Dörfer, besonders in den fruchtbarsten Gebieten. 
Die Bauergüter liegen stadtartig in Gruppen beisammen, und mancher Landwirth 
hat zu seinem entferntesten schmalen Feldstreif einen Weg von mehreren Stunden 
zurückzulegen. 
Die Thüringer sind wahrscheinlich die Nachkommen der Hermunduren. Die 
Züge des Thüringers sind grob und phlegmatisch, seine Augen Haben jenen einför¬ 
migen blauen Ausdruck, der von Zufriedenheit und Selbstbewußtlosigkeit Zeugniß 
giebt, immer aber ein charakteristisches Zeichen deutschen Ursprunges ist. Eben so 
wenig wie äußerlich ist der Thüringer geistig gewandt, biegsam und schmiegsam. 
Er unterscheidet sich dadurch von dem meißnischen Sachsen, der äußerlich beweglicher 
und innerlich regsamer und gewandter ist. Blonde Haare sind thüringische Grund¬ 
farbe. Die Gefühlsweise des Thüringers giebt sich Huch durch seine ^Vorliebe für 
Musik kund. Weil sein Land gesegnet ist, hält er auf Pflege des Leibes mehr, als 
der benachbarte Sachse; Biederkeit und Gastfreundschaft sind Tugenden, die man 
noch heute in Thüringen unverkümmert antrifft. Die kultivirtesten Thüringer sind 
die Gothaer. 
In vielen Distrikten Thüringens trifft man eine Behaglichkeit und Lebensfülle, 
die an die holsteinischen und ineckl enburgischen Länder erinnert. Freundliche Dörfer, 
ansehnliche Rittergüter, blühende Städte thun diesen Zustand dar, desgleichen der 
Aufwand bei den Gastereien der Bauern und die rücksichtslose Gastfreundschaft. 
Bei Hochzeiten werden nicht selten ein gemästeter Ochse, 6 — 8 Kälber, 1 Dutzend 
Schafe verzehrt. Die Bauern im Norden sind wol auch gastfrei, aber sie thun stolz 
mit ihrer Gastfreundschaft; doch die Thüringer leben darin, wie denn auch die meisten 
Dorfnamen mit dem Worte „leben" endigen. Aber die Bauern in Jever, Dith- 
marsen rc. haben dafür auch ihre Ernte aus den Gefahren des Lebens zu retten, 
aus Sturm und Wetter, Deichbrüchen und Ueberschwemmungen, und solche Besorg¬ 
nisse rufen eine Stimmung hervor, die sich wenig mit einem heitern und hingebenden 
Herzen verträgt. In Thüringen dagegen kennt man solche Drangsale nicht, und 
dies ist auch ein Grund, warum man hier so von Herzen lustig ist. Die Lebenslust
	        
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