209
standen die Armen vor den erstaunten Männern; Äöntg Herwig
bot ihnen einen guten Morgen, — ach, wie lange hatten sie den
freundlichen Gruß nicht vernommen! Gerlinde sprach ja nie ein
gütiges Wort zu ihnen. „Laßt es euch nicht verdrießen," be¬
gann Herwig, „sagt uns in Treuen, was wir euch fragen wollen,
und nehmet dafür vier gute goldene Spangen als Sold." —
„Behaltet eure Spangen in Gottes Namen," antwortete Gudrun,
„rvir nehmen keine Miete. Doch fraget schnell; denn wir müssen
bald von hinnen scheiden." — „Wem gehört dies Land und dort
die feste Burg?" sprach Herwig, „wie heißt er, der euch so schmäh¬
lich waschen hieß? Mich dünkt, auf Ehre hält er wenig." Da
gab sie zur Antwort: „Hartmut heißt der eine Fürst des Landes,
der andere Ludwig, der Normannenkönig; ihnen dient rings alles
Volk; in großer Macht und Ehre hausen sie hier mit ihren Helden."
„Könnt ihr uns wohl berichten," fiel nun Ortwin ein, „wo
wir die Fürsten finden? Wir bringen ihnen Botschaft von eines
großen Königs Ingesinde." — „Wir ließen sie," sprach Gudrun,
„heute morgen schlafend dort auf jener Burg, wo sie viertausend
Mannen versammelt haben." Nun zitterten die schönen Mägdlein
vor Kälte; darum boten ihnen die beiden Helden ihre Mäntel an;
doch Gudrun sagte: „Gott vergelt' euch den guten Willen! aber
eure Mäntel behaltet selbst: an meinem Leibe soll niemand eines
Mannes Kleid erblicken."
Staunend sah Herwig die hehre Gudrun an; sie deuchte ihn
so edel und so schön, daß er tief aufseufzte, denn er mußte sie
einer vergleichen, an die er stets in Treue dachte. „Sieh, Bruder,"
sprach er heimlich zu Ortwin, „ist deine Schwester noch am Leben,
so ist es diese Maid, die hier vor uns steht; nie sah ich eine,
die ihr ähnlicher war." Doch Ortwin entgegnete: „Sie ist zwar
hold und liebreizend; aber meiner Schwester kann sie sich nicht ver¬
gleichen. Von meiner Kindheit her gemahnt mich's noch, daß nir¬
gend ein schöneres Mägdlein als sie zu finden war."
Da wandte sich Herwig wieder zu den Jungfrauen: „Habt
ihr vielleicht von fremden Frauen gehört, die man kriegsgefangen
hierher entführte? Die schönste unter ihnen ward Gudrun ge¬
nannt?" — „Da weiß ich wohl Bescheid," sprach Gudrun, „die
Ihr suchet, hab' ich oft in großer Not und Trübsal gesehen. Wer
Ihr auch seid, Ihr dünkt mich edel. Einst konnt' ich einen Helden.
P a l d a m u s-N e h o r n, Lesebuch. Ausg. E. Teil 6. 14