3o Kap. 2. Von den Pflichten gegen Andre.
chen, daß dies nicht allemal möglich fey, weil die Tem¬
peramente und Afstcte nicht immer gleichförmig, som
dcrn verschieden sind. „Ich gebe es Ihnen zu, daß
es eine große Seltenheit fey, zwo solche Schwestern on-
zutreffen, wie die beyden Töchter der Madame H*I
die nur Eine Seele zu haben scheinen, und daß die Eine
mit weint, wenn die A/.dre von der Mama ausgeschol-
ten wird, und hingegen die Eine stch mir freuet, wenn
die Andre von der Mama gelobt wird. Dies gebe ich
Ihnen zu. Allein, Sie werben so billig seyn, und
mir wieder zugeben, daß eine kluge Nachsicht gegen die
fehlerhaften Affecten des Andern diese Vereinigung der
Gemücher dennoch zuwege bringen könne. Sie müssen
nur ihre Neigungen auszustudiren suchen, so wird es
Ihnen alsdenn nicht schwer fallen, sich in einander zu schir
cken. Sie wissen es einmal, Lottcheu, daß Ihre
Schwester Dorcheu etwas hitzig und empfindlich ist,
daß sie aber babey ein gutes Herz besitzt, und ihre Ue-
bereilung bald bereuet. Geben Sie ihr darinnen etwas
nach. Dorcheu wird gewiß ihren Fehler mit der Zeit
verbessern, und sich bemühen, so sanftmüthig zu wer.
den, wie Sie sind. Sie selbst haben ja oft eine An¬
wandlung von einem kleinen Eigensinne. Dorcheu
giebt Ihnen alsdenn auch nach. So rücken sie einander
naher; Ihre Gewogenheit wachst, und die Verbindung
Ihrer Gemüther wird unzertrennlich werden.
Viertens. Verbannen Sie vorzüglich aus Ih¬
rem Gemülhe alle Neigung zur Mißgunst und zum
Nelde. Dieses find mehrentheils die fruchtbarsten
Quellen, aus denen die Uneinigkeit, die Feindschaft und
der Haß zwischen Geschwistern entstehet. Sie können