Full text: Wirtschaftsgeographie und Wirtschaftskunde Deutschlands (Bd. 1)

A. Die Landwirtschaft und die mit ihr zusammenhängenden Industrien. 119 
Der Arbeiterbedarf der zu intensiverem Betriebe übergegangenen deutschen Land- 
Wirtschaft kann bei weitem nicht mehr befriedigt werden. Gerade aus den 
landwirtschaftlichen östlichen Provinzen hat eine starke Fortwanderung statt- 
gefunden, teils nach überseeischen Ländern (Auswanderung), seit 1880 aber mehr 
nach den Industriegebieten des westlichen Deutschlands und nach den Städten 
(Abwanderung). So leidet, wie schon früher erwähnt, die deutsche Landwirt- 
fchaft unter einer empfindlichen Arbeiternot. Zum Ersätze werden aus Polen 
und Galizien fremde Arbeiter herangezogen. Man nennt sie Wanderarbeiter, 
in der Provinz Sachsen auch Sachsengänger. Sie sind während der Sommer- 
monate gegen Barlohn und Naturalien in Mittel- und Nordostdeutschland tätig 
und gehen zum Winter mit ihren Ersparnissen in die Heimat zurück. Diese 
Wanderarbeiter, deren Zahl mehrere Hunderttausende beträgt, verdrängen jedoch 
durch ihre niedrige Lebenshaltung die einheimischen Landarbeiter noch mehr. 
Sie sind weniger zuverlässig und wirtschaftlich als die deutschen Arbeiter und 
können daher kein dauerndes Heilmittel für die Arbeiternot bilden. 
Die Arbeit ist in der Landwirtschast eine ganz andersartige als in der Industrie: 
statt der Beschäftigung in den geschlossenen Fabrikräumen und Werkstätten die Tätigkeit 
in der freien, gesunden Luft; statt der ewigen Gleichförmigkeit der Arbeit fortwährende 
Abwechselung; statt der ziemlich gleichmäßigen Verteilung der Arbeit auf das ganze Jahr 
eine Zusammendrängung auf die Sommermonate; statt der Unsicherheit der Arbeits- 
gelegenheit in der Industrie eine ziemliche Sicherheit in der Landwirtschaft, Weil die 
Landarbeit im allgemeinen gesunder als die industrielle und gleichzeitig so vielartig ist, daß 
alle Kräfte benutzt werden können, spielt bei ihr auch die Frauen- und Kinderarbeit eine 
wichtige Rolle (fast die Hälfte der Angestellten sind weiblichen Geschlechts), ohne für 
Gesundheit und Familienleben Gefahren ;u bringen wie in der Industrie. Dagegen sind 
die Löhne der ländlichen Arbeiter niedriger, die Arbeitsdauer ist durchschnittlich länger, ihr 
Leben ist sowohl in politischer als auch in sozialer Beziehung abhängiger, und die Mög- 
lichkeit des sozialen Aufsteigens ist gering. Das sind auch die Hauptgründe für die Ab- 
Wanderung der Landbevölkerung. 
Die Zahl der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft Deutschlands betrug 
nach der Berufszählung von 1907 fast 93A Millionen. Sie ist seit 1895 im 
gleichen Maße gewachsen wie die Zahl der Gesamtbevölkerung, d. h. um etwa 
19 %. Dagegen ist die Menge der selbständigen Landwirte um 2,64 °/o 
zurückgegangen, so daß jetzt noch rund Mill. Unternehmer vorhanden sind. 
Auch die Zahl der landwirtschaftlichen Beamten ist gesunken, die Steigerung 
entfällt demnach nur auf die Arbeiter, und zwar ausschließlich auf die 
weiblichen; denn während 1895 noch von den landwirtschaftlichen Arbeitern 
3.1 Mill. männlich und nur 2,4 Mill. weiblich waren, betrug die Zahl der 
männlichen Arbeiter 1907 nur 2,8 Mill., dagegen diejenige der weiblichen 
4.2 Mill. Da die weibliche Arbeiterschaft sich zum größten Teil aus Unver- 
heirateten zusammensetzen dürfte, so muß die Folge ein Zurückgehen der Fami- 
lienangehörigen sein, und in der Tat finden wir, daß sich die Zahl der Berufs- 
zugehörigen der Land- und Forstwirtschaft von 18,5 Mill. im Jahre 1895 auf 
17,7 Mill. im Jahre 1907 ermäßigt hat, d. h. daß sie von 35,8 % der Ge- 
samtbeoölkerung auf 28,6 % zurückgegangen ist. (Siehe auch Tabelle S. 105.) 
Diese Zahlen beweisen am besten, daß Deutschland immer mehr aus 
einem Landwirtschaftsstaat in einen Industrie- und Handelsstaat
	        
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