— 300 -
schließt die gefeierte heilige Stätte ein, welche von mehr als SO Lampen
erleuchtet wird. Die Grabesstelle selbst mißt 2 in in der Länge,
1 m in der Breite und ist mit einer Platte von rötlichem Marmor
bedeckt. Das ist also die Stätte, an welcher seit Jahrhunderten
Millionen von Christen mit innigster Rührung gebetet, heiße Thränen
dankbarer Liebe geweint und ihre Opfergaben dargebracht haben,
damit die Lampen vor jenem Grabe nicht erlöschen, das die Finster-
nis der Welt mit dem milden Lichte des Trostes und der Hoffnung
auf die Ewigkeit erfüllt hat.
Ohne daß ich wnßte, wie mir geschah, war ich aus dem heiligen
Grabe getreten und hatte die Terrasse der Kirche erstiegen, von
welcher man ganz Jerusalem übersieht. Da lag sie vor mir, die
Stadt der Jahrtausende, und erschien mir wie die Witwe in ihrer
Trauer; denn die Jahrhunderte, welche auf ihr liegen, die vor Alter
sinkenden Ölbäume, die Grabmale mit den weißen Steinen, die
durchlöcherten Felsen und das zerstreute Gemäuer niahnen genugsam
an die Last von Begebnissen und Verlusten, die sie seit frühester
Zeit schon ertragen hat. Der Fremdling meint darum, es sollte
stille fein in ihrer Mitte wie in einem Trauerhause, und die Menschen
in den Gassen sollten mit verhüllten Häuptern gehen. Aber auch
dieses Trauerhaus von Jahrhunderten ist vom Getümmel der Erde
nicht verschont, und wo man nur stille Klage erwartet und frommes
Sehnen, da drängen sich Käufer und Verkäufer, zudringliche Führer
und gieriges Gesindel. — „Sehen Sie," sagte mein Führer zu mir,
„dieser Weg, der zur Grabeskirche führt, ist die Via dolorosa."
Hier ist kein Stein und keine Platte, die nicht Zeugen einer großen
Begebenheit wären. Dieser Raum hat deu Heiligen gesehen in all
seiner Schmach, ihn, den Verurteilten und Leidenden, den Dorn-
gekrönten und unter der Last des Kreuzes zum Tode Geführten.
Welch heilige Erinnerungen sind in diese Steine eingebaut! Wie
viel tausend Herzen seit Konstantins und Helenas Zeiten haben über
diesem Anblick geblutet, sind von diesem Anblick getröstet von dannen
gezogen! „Was willst du klagen, kleine Seele?" so sprach ich zu mir,
„was ist doch all dein Leid gegen den Jammer, der auf dieser Bahn