Full text: Für Klasse 2 (neuntes Schuljahr) und die Obertertia der Studienanstalten (Teil 8, [Schülerband])

Gesundheit seines Weibes mehr galt, als das lebensunfähige Wesen, 
das sie vollends zu untergraben drohte. 
Er bewog Line, die in tränenloser Verzweiflung alles mit sich ge¬ 
schehen ließ, sich auf das Bett zu legen, wo sie in bleiernem Schlaf 
ein paar Stunden ruhte. Als Fensen abends, früher als sonst, heim¬ 
kam, kniete sie wieder neben der Leiche des Kindes, die sie mit einem 
reinen Hemdlein bekleidet hatte. Auf dem Kopfkissen neben dem starren, 
kleinen Gesichte lag ein flüchtig zusammengeraffter Strauß von wilden 
Glockenblumen. Die hatte Fiele auf das Gebot der Mutter vom Weg¬ 
rande herbeigeholt. Nun saß er unter dem Tisch und knabberte hungrig 
an einem trockenen, hartgewordenen Stück Brot. Als er den Vater 
eintreten sah, sprang er ihm entgegen und sagte anklagend: „Lütt Ernst 
is dod, und Mudder deiht nir als weenen!" 
Während der drei Tage, die noch bis zum Begräbnis verstrichen, 
änderte Line ihr Benehmen nicht. Sie berührte kaum irgendwelche Speise, 
die der geängstete Mann ihr fast mit Gewalt einzuflößen suchte. Die 
Nachbarin Hinrichsen kam ein paarmal herüber, konnte aber auch nicht 
viel ausrichten. Höchstens, daß sie den vernachlässigten Fiete wusch und 
kämmte und ihm sagte, er solle mittags kommen, um bei ihr zu essen. 
„De arme Jung kriegt ja de ganze Tag öwer nir Warmes in de 
Liw," entschuldigte sie sich bei ihrem Manne, der sie hart anfuhr: 
„Lat sin Mudder duch för em sorgen. De hört he duch wull to, 
und se schul! leewer dat Flennen üm de lütt storbnen Jung laten un 
uppassen, dat dat mit de annere ni ebenso geiht. Ring nuch sücht he ut!" 
Gestern abend nun brachte der Tischler den kleinen Sarg. Line 
selbst legte mit bebenden Händen den Körper ihres Kindes in die 
Wiege, in der es den ewigen Schlaf schlafen sollte. Sie schnitt ein 
paar hellrote Monatsrosen und leuchtende Eeranienblüten von ihren 
Blumenstöcken am Fenster und legte einen Kranz davon um das wächserne 
Eesichtchen. 
Wie die duftigen, lebensvollen Blüten von dem blassen Toten- 
antlih abstachen! Wie unter den Hammerschlägen des Mannes, der 
den Sarg zunagelte, ihr Herz sich wand und krümmte, als träfe es ein 
jeder bis ins Innerste hinein! 
Ja, sie trafen auch! Tief, tief — und es gab keinen Trost! 
Nicht in den unbeholfenen Liebesbeweisen ihres Mannes, die sie zwar 
nicht abwehrte, aber doch gänzlich teilnahmslos über sich ergehen ließ. 
Und nicht in den Worten des alten Pastors, der heute morgen ge-
	        
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