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1150—1350. A. Epische Poesie. VII. Spruch- und Lehrgedichte.
Daß er wisse, wie er beschaffen sei;
Und ob in den Spiegel ihr tausendmal schaut,
Nie werdet ihr selbst euch kund und vertraut.
Es quillet aus dem Spund das Naß,
Womit gesüllet ist das Faß.
_ Möcht' meiner selbst ich Meister sein,
So hätt' ich ganz den Willen mein.
Gefüllten Becher eben zu tragen —
Die Mahnung hör' ich oftmals sagen.
Wie gleichet doch das Glück dem Ball!
Wer steigt, der fürchte sich vor dem Fall.
Die Bande kann niemand finden,
Die meine Gedanken binden.
Wohl kann ich die Leute außen erspähen,
Nicht kann ich in ihr Innres sehen.
Man sagt, der sei kein thörichter Mann,
Der gutes Leben vertragen kann.
Propheten sieht man leicht verhöhnt
Im eignen Lande, selten gekrönt.
So großes Glück ist noch niemand geschehen,
Daß er nicht müsse zur Erde sehen;
Von Erden ist er ja genommen
Und muß auch wieder zu Erden kommen.
Gar schöne Blume dem Dorn entspringt,
Des Stechen doch schlimme Wunde bringt.
Manch Blümlein prangt in Herrlichkeit,
Des Wurzel voll von Bitterkeit.
Ein Haus mit mehr als einem Herrn
Ist dem Verderben nicht mehr fern.
Der Quell gewinnt nimmer breiten Fluß,
Fn den man das Wasser tragen muß.
Sw schafft nur eignen Geistes Stärke
Dem Manne der Ehr' und Tugend Werke.
Um keine Art von ird'schem Gut
Geb' hin ich meinen freien Mut.
16. Vom Gebet.
Ein Schütz, den Übung nicht verdrießt,
Wie schlecht er auch noch immer schießt,
So trifft er doch zuweilen das Ziel.
So ergeht's auch dem, der betet viel:
Der Herr erhört ihn dann und wann,
Daß seine Gnad' er rühmen kann.
17. Vom Lügen und Trügen.
Lügen und Trügen nimmt man als Schild,
Wenn's Schande zu bedecken gilt;
Der Schild aber währt gar kurze Frist,
Der aus Lug und Trug gebildet ist.
Wenn einstens naht die letzte Frist,
Wo dieser Welt Ende gekommen ist.
Alsdann mag auch auf dieser Erden
Des Lügens und Trügens Ende werden.
18. Vom Tode.
Es ist bestimmt, daß niemand mag
Dem Tod entrinnen einen Tag;
Das sollten allzeit wir bedenken,
Auf Gott stets Augen und Herzen lenken.
Nach langem Leben alles strebt;
Und hätte Adam bis jetzt gelebt,
! So wäre das gegen die Ewigkeit
Nicht eines kleinen Halmes breit.
Der Tod, das ist das Freudenfest,
! Mit dem die Welt uns am Ende entläßt.
B. Lyrische Poesie.
Charakter und Inhalt. Obwohl die lyrische Poesie des Mittelalters ganz auf heimischem
Boden aus den Volksgesängen fahrender Cpielleute erwachsen ist — nur eine ihrer Hauptarten,
das ritterliche Minnelied, verrät eine durch den Charakter der Zeit begründete Verwandtschaft
mit französischer Dichtung — so ward sie doch vorzugsweise in den höheren Lebenskreisen geübt
und gepflegt und völlig zur Kunstdichtung ausgebildet. Sie enthält: I) den Preis der welt¬
lichen Minne (Minnelieder); 2) den Preis der himmlischen Minne (geistliche Lieder);
3) Schilderungen der Eindrücke der Natur in ihren wechselnden Erscheinungen (Naturlieder);
4) Schilderungen der Verhältnisse des öffentlichen Lebens (politische Lieder). — Form. Alle
lyrischen Gedichte sind in Strophen abgefaßt und für den Gesang (nach Weisen oder Melodiken)
bestimmt; der Dichter ist zugleich Komponist. Die einstrophigen, Sprüche genannt, sind der
gedrungene Ausdruck reflektierender Stimmung, die mehrstrophigen dagegen, welche Lieder
heißen, rein lyrische Ergüsse der Empfindung. In Sprüchen und Liedern besteht jede Strophe
aus drei Gliedern, von denen zwei, die Stollen, gleich gebaut und gereimt sind, das dritte,
der Abgesang, sein eigenes Maß und Reimgesetz befolgt; doch giebt es auch zweigliedrige
Strophen und solche, in denen der ungleiche Teil in der Mitte steht. Für jedes Lied wird ein
eigner Ton (die Strophenform) erfunden, ebenso eine eigene Melodie; dagegen können mehrere
Sprüche nach einem Tone gedichtet sein. Die Töne sind nach dem Versmaß, nach der Zeilenzahl
der Stollen und des Abgesangs sowie nach der Anordnung der Reime oder Waisen (reimlose Zeilen