Giso trat vor den Tisch, auf dem das blanke Schwert
und der aus Weiden geflochtene Strick, die Wyd, lag, ließ
sich auf sein rechtes Knie nieder, berührte Schwert und
Wyd und sprach:
„Ich heische das heimliche Gericht und schwöre, daß
meine Klage Femfrage ist!“
Der Freischöffe Rüdiger vom Berge erhob sich vom
Sitze und beschwor, daß Gisos Eid rein sei.
„Wen klagst du an, daß er wider deine Ehre, dein
Recht und deinen Leib gehandelt hat?“ fragte der Freigraf.
Giso erwiderte: „Ich klage den Gaugrafen Boto von
Ruheneck an!“
Der Freigraf rief: „Boto von Ruheneck, ich heische
dich vor meinen Stuhl!“
Tiefe Stille lag über den Malplatz gebreitet, nachdem
dieser Ruf verklungen war, und Freigraf wie Schöffen blickten
nach dem Waldsaume; dort mußte der Gaugraf erscheinen.
Die Sonne stand schon hoch am Himmelsbogen, es
wurde Mittag, und die Femrichter harrten regungslos wie
Steinbilder aus.
Sie warteten bis zur vierten Nachmittagsstunde, wo
der Sonnenball sich zum Niederrollen neigte.
Der Freigraf sprach: „Der Gaugraf Boto von Ruheneck
ist nicht gekommen. Giso, was forderst du von uns, da der
Geladene sich nicht gezeigt hat?“
Giso trat vor den Tisch und sagte: „Stuhlherr und
Freischöffen des geheimen Gerichts, ich fordere das Voll¬
gericht. Sprecht das Urteil, daß das Recht auf meiner Seite
sei und bleibe!“
Rüdiger vom Berge kniete, sich von seinem Sitze ent¬
fernend, neben Giso nieder: „Der Gaugraf hat das heim¬
liche Gericht verschmäht. Seine Missetat verdient Galgen
und Tod!“
Er erzählte dann die Frevel, die der Gaugraf an Richmar
und seiner Ehefrau verübt hatte, und schloß: „Daß dies
wahr ist, des helfe mir Gott und seine Heiligen!“
Freigraf und Freischöffen riefen: „Das Vollgericht soll
geschehen!“
Bremer Lesebuch. Sechstes Schuljahr. 13