Deutschland, Österreich und die Schweiz. 183
schießt in die Flut. Die Pfosten der Hütte werden dadurch entblößt. Das
Meer rüttelt sie. Der erschreckte Bewohner rettet erst seine Schafe auf
den Boden. Dann sucht er selbst da oben seine Zuflucht. Schon stürzeu
Mauern. Der schwankende Dachboden wird nur noch von einzelnen Ständern
gehalten. Die Wogen wüten immer fürchterlicher in dem unteren Teile
des Hauses und spülen Schränke, Betten und Wiegen hinaus. Die
Bewohner drängen sich ängstlich zusammen. Der Mann preßt seine
Frau an sich, die Mutter ihre wimmernden Kinder. Aus den Fugen der
Dielen bricht die Flut. Die Bretter werden gehoben, das Dach wird
durchlöchert, Balken krachen, Schmerzensrnse ertönen. Der Dachboden senkt
sich und die Wogen verschlingen die letzten Trümmer der Hütte, begraben
auch die unglückliche Familie. Leichen und Trümmer schleudern sich die
Wogen einander zu. Und dennoch liebt der Halligbewohner seine Heimat
über alles. Wo er vor kurzem alles verlor, wo jeden Augenblick sein
Leben von Gefahr bedroht ist, da baut er sich getrost wieder an.
Nach Biernatzki,
12. Helgoland.
1. Das Land. 2. Das Volk.
1) In der stürmischen Nordsee, etwa 60 Kilometer entfernt von den
Mündungen der Elbe und Weser, liegt eine der sonderbarsten und merk-
würdigsten Inseln dieser nordischen Gewässer, das Felseneiland Helgoland.
Ähnlich einem riesigen, mit Blut bespritzten Opferaltare steigt die fast drei-
eckige Insel aus den blaugrünen Wogen empor, wegen der eigentümlichen
Färbung ihres Gesteins bei allen Schiffern der nordischen Meere „die rote / ' ,
Klippe" genannt. Die Insel wird in das Hohe und Niedrige Land -*
eingeteilt. Jenes hat 4200 Schritte im Umfang und ist 30 bis 50 Meter
über der Meeresfläche erhaben; dieses, ein flaches Vorland aus rötlichem
Thon und Nollsteinen, hat jetzt kaum noch einen Umfang von 1200 Schritten,
weil die Fluten des Meeres fortdauernd größere oder kleinere Massen ab-
spülen. Der obere Teil der Insel ist Felsengrund, aber mit einer dünnen
Schicht Fruchterde überdeckt, die Kartoffeln, Gerste und einiges Gesträuch
hervorbringt; hier liegt eine kleine Stadt von etwa 350 Häusern und
erhebt sich der schlanke Leuchtturm, dessen Glaslaterue in Sturmnächten
50 Kilometer weit in See gesehen wird. Auf dem an der Ostseite der
Insel gelegenen Niedrigen Lande haben sich etwa 70 Häuser angesiedelt,
darunter eine Anzahl glänzender Gasthöfe für Badegäste. Denn die etwa
*/4 Stunde östlicher mitten im Meere liegende Sandinsel, eine wellige
Düne von feinkörnigem Sand, besitzt den herrlichsten Badestrand der Welt
und ist nicht nur eins der besuchtesten Seebäder Deutschlands, sondern un-
streitig auch das heilsamste und kräftigste. — 2) Die Bewohner Helgo¬
lands (etwa 3900) sind friesischen Stammes. Das Völkchen ist äußerst
genügsam, von Jugend auf an Entbehrungen aller Art gewöhnt, dabei
eben so stolz auf feine Abkunft, als zähe in der Bewahrung der alten
Bräuche. Ihre Sitteneinfalt ist so groß, daß man Diebstahl auf der Iufel
nicht kennt; deshalb verschließt niemand seine Hausthür; ja viele Thüren
haben nicht einmal Schlösser, sondern bloß hölzerne Klinken. Der größte
Teil der Bevölkerung nährt sich von Fischfang und Lotsendienst. Betritt
ein Fremder die Insel, so muß ihm die grenzenlose Unthätigkeit der männ-