Full text: Vaterländisches Lesebuch für die Evangelische Volksschule Norddeutschlands

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für Spott und ging wieder in die Stube, setzte mich und raunte meinem 
Gesellen zu: „Der Wirth hat mir gesagt, der sei der Luther." Er wollte 
es auch, wie ich, nicht recht glauben und sprach: „er hat vielleicht gesagt, 
es sei der Hutten, und hast ihn nicht recht verstanden." Dieweil mich nun 
die Reutcrkleidung mehr an den Hutten, denn an den Mönch Luther, ge¬ 
mahnte, so ließ ich mich bereden, der Wirth hätte gesprochen, es sei Hutten; 
denn der Ansang beider Namen klang fast zusammen. Derhalben, was ich 
nun redete, sprach ich, als ob ich mit Herrn Ulrich von Hutten spräche. 
Mittlerweile kamen zwei Kaufleute, die auch da übernachten wollten, 
und nachdem sie sich entlediget, legte einer neben sich ein ungebunden Büch¬ 
lein. Fragte Martin, was es sur ein Buch wäre. Sprach er: „es ist 
vr. Luther's Auslegung etlicher Evangelien und Episteln, erst neugedruckt; 
habt ihr sie nie gesehen?" Sprach Martin: „sie sollen mir auch bald 
werden." Da rief der Wirth: „nun fuget euch zu Tische, wir wollen 
essen." Wir aber baten den Wirth, er möge uns etwas besonders geben; 
denn wir fürchteten die Zeche. Da das Martinus hörte, sprach er: „kom¬ 
met herzu, ich will die Zehrung mit dem Wirth wohl abtragen." 
Unter dem Essen that Martinus viel gottselige, freundliche Reden, 
daß die Kaufleute und wir mehr seiner Worte, denn aller Speisen wahr¬ 
nahmen; er sei der Hoffnung, sagte er, daß die evangelische Wahrheit 
mehr bei unsern Kindern und Nachkommen Frucht bringen werde, als an 
den Eltern, in welchen die Irrthümer eingewurzelt seien, daß sie nicht leicht 
ausgereutet werden. 
Darnach sprach der ältere von den Kaufleuten: „ich bin ein ein¬ 
fältiger Laie und versteh' mich auf die Händel nicht besonders. Das aber 
sag' ich : wie mich die Sach' ansieht, so muß der Luther entweder ein Engel 
vom Himmel sein oder ein Teufel aus der Hölle. Ich möcht' ihm wohl 
beichten; denn ich glaub', er könnte mein Gewissen wohl unterrichten." 
Da kam der Wirth neben uns. „Habt nicht Sorge für die Zehrung", 
sagte er heimlich, „Martinus hat das Nachtmahl für euch ausgerichtet." 
Dies freute uns sehr, nicht des Geldes und Genusses wegen, sondern daß 
er uns gastfrei gehalten, dieser Mann. Nach dem Mahl stunden die Kauf¬ 
leute auf und gingen in den Stall, für ihre Pferde zu sorgen. Martinus 
blieb allein bei uns in der Stube; wir dankten ihm für seine Zehrung und 
ließen uns dabei merken, daß wir ihn für Ulrich von Hutten hielten. Er 
aber sprach: „ich bin es nicht." Gerade trat der Wirth herein. Sprach 
Martinus: „ich bin diese Nacht zu einem Edelmann worden, denn diese 
Schweizer halten mich für Ulrich von Hutten." Sprach der Wirth: „ihr 
seid es nicht, aber ihr seid Martinus Luther." Da lachte er mit solchem 
Scherz: „die halten mich für den Hutten, ihr für den Luther; am.Ende 
werd' ich bald Martinus Marcolfus heißen." Und nach solchem Gespräch 
nahm er ein hohes Bierglas und sprach nach des Landes Brauch : „Schweizer, 
trinket mir noch einen freundlichen Trunk zum Segen." Und wie ich das 
Glas annehmen wollte, bot er mir dafür einen Krug mit Wein, sprechend : 
„das Bier ist für euch ungewohnt, trinket den Wein."
	        
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