Full text: Erdkundliches Lesebuch für höhere Schulen

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noch ausnahmslos teils erhalten, teils in ihrem Lauf mit hinreichender Deutlich- 
keit zu verfolgen; nur an einigen wenigen Stellen sind sie auch noch, wenn auch 
in sehr bescheidenem Maße, in Funktion. Man könnte auch gegenwärtig nichts 
Klügeres und Besseres tun, als im wesentlichen das alte Netz wieder herzustellen. 
Allerdings müßte man dabei mindestens für die erste Zeit der Wiederkultivierung 
des Landes darauf verzichten, es in seinen: ganzen Umfang wieder für den Anbau 
zu gewinnen. Gut zwei Drittel seines Areals sind durch die über ein Jahrtausend 
währende Vernachlässigung in einen Zustand versetzt worden, der so kostspielige 
und weitausgreifende Anlagen zur Beseitigung des herrschenden Übels erfordern 
würde, daß davon noch auf lange hinaus wird abgesehen werden müssen. Sowohl 
der Euphrat als auch der Tigris sind so geartet, daß sie im Frühling alljährlich 
zur Zeit ihres Hochwassers das ganze Land an ihrem Unterlauf weit und breit 
überschwemmen und dabei eine Menge Sedimente zurücklassen. Diese Schlamm- 
ablagerungen sind an den Rändern des Strombettes am stärksten, und daher kommt 
es, daß sich zu beiden Seiten des Wasserlaufes eine Erhöhung der Anschwem- 
mungen, ähnlich einem breiten, flachen Damme, bildet, so daß das umliegende Land 
in weiterer Entfernung schließlich selbst tieser zu liegen kommt als der Strom-- 
spiegel selbst. Bei diesen: Sachverhalt kommt alles darauf an, durch ein umsichtig 
angelegtes und unausgesetzt überwachtes und erhaltenes System von Dämmen, 
Wasserdurchlässen und Schleusen, die namentlich zur Frühjahrszeit rasch und reißend 
strömenden Wassermassen unter Kontrolle zu behalten. Es müßten jederzeit große 
Menschenmengen auf einen Wink von leitender Stelle bereit stehen, um an einen 
gefährdeten Punkt in größtmöglicher Eile die nötigen Arbeiten, sei es öffnender, 
fei es schließender Natur, vorzunehmen. Zur Zeit Altbabylons, wohl auch zur 
früheren persischen und sicher zur sassanidischen Zeit, funktionierten diese Anlagen 
gut. Nach der arabischen Eroberung verfielen sie aber und es bildeten sich teils 
Trockensteppen, teils Sümpfe. 
13. An deutschem Herd in Transkaukasien. 
Von Hugo Grothe^). 
Deutsche Ortschaften jenseits der hohen kaukasischen Bergriesen, welche die 
europäische Welt von der asiatischen abschließen? Wen möchte nicht bei dieser selt- 
samen Kunde ein gewisses Erstaunen fassen! Gewiß, eine nach Tausenden zählende 
Schar wackerer Pilger, die aus ihrer Heimat Württemberg phantastischen gläubigen 
Herzens auszogen, eine Wiederkehr Christi und das Erstehen eines tausendjährigen 
Friedensreiches aus Erden im fernen Morgenlande zu erwarten, hat vor ungefähr 
80 Jahren dort seine Zuflucht gesucht. So gut wie unbekannt ist dieses nicht un- 
bedeutsame Ereignis, und noch weniger weiß man von der Geschichte ihres Aus- 
zugs, ihren Schicksalen und Kämpfen, ihrer gegenwärtigen Lage. Wildes, mit 
i) Aus türkischer Erde. Reisebilder und Studien. Berlin, Allgem. Verein f. deutsche 
Literatur, 2. Aufl. 1903.
	        
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