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Bilder aus Nord-Europa.
ein klagender Ruf, trübe wie das nordische Sonnenlicht, läßt sich dann
und wann vernehmen. Macht bei uns die Schneedecke des Winters
dem bunten Teppich des Frühlings Platz, dann stimmt die Nachtigall
ihre seelenvollen Melodieen an. Die nordische Nachtigall ist der
Schwan. Nur leise Töne läßt das gesanglose Tier in langen Zwischen-
räumen hören; aber es regt und rührt sich nach diesen Frühlingstönen
auch hier in der Pflanzenwelt und zwar mit einer Eile und einer
Kraft, von der wir uns kaum einen Begriff machen können, als ob
die nordischen Frühlingskinder wüßten, daß das Leben in ihrem Lande
kurz und der Tod lang sei. Es blüht die Steinbrech mit der reinsten
schneeweißen Farbe, und der Enzian entfaltet ein Blau, das der Bläue
des italienischen Himmels nichts nachgibt. Das Zwerg-Vergißmeinnicht
übertrifft seine Schwester an unserem Bache und die rote Primel die
Rose in unseren Gärten. Aber nur das Auge wird ergötzt, und wie
die Vögel des Nordens ohne Gesang dasitzen, so stehen die Blumen
an der Grenze des ewigen Schnees ohne Geruch da, umgeben von
nackten Felsen und trostlosen Schneefeldern.
2.
Auch die Menge der sprudelnden Quellen macht Island, wie wir
schon gesehen, zu einem merkwürdigen Lande.
Sämtliche Quellen — alles in allem sicherlich ein halbes Hundert
— liegen an einem flachen, langgestreckten, von Nordnordost nach Süd-
südwest verlaufenden Abhang, östlich von einer isolierten Höhe, Laugafell.
Auf der anderen Seite des gesamten Quellengebietes liegt, etwas tiefer
als dieses, ein von einem Bache durchströmtes Moor. Den Bezirk,
auf welchem sich die Quellen befinden, muß man sich nicht allzu groß
denken; derselbe kann wohl eine Länge von 750 m und eine Breite
von höchstens 300 m haben. Die Oberfläche besteht hauptsächlich aus
rotgelben Sand, und in der Nähe der Quellen vorzugsweise aus
Kieselsinter. Hier und da bemerkt man einen kleinen grünen Fleck;
der untere Teil des Laugafell ist mit roten und gelben oder mit rot-
gelben Massen von Thon und Sand bedeckt. Die rotgelbe Farbe ist
überhaupt allenthalben auf Jslaud, wo es siedende Quellen giebt, die
vorherrschende.
Geisir, der „große Geisir", der „König aller Geisirn", liegt in
dem nördlichen Teile der Gruppe. Das Bassin des Geisir, welches
sich sowohl durch seine Gestalt, als auch durch seine Größe von dem
aller anderen Quellen unterscheidet, ist ungefähr wie ein Vulkan ge-
formt, und wie dieser fein eigener Baumeister gewesen, so hat auch der
Geisir im Laufe der Zeit den fast regelmäßigen, flach gewölbten Kegel
von Kiefelfinter erbaut, jenen Kegel, der sich etwa 2 m über die nächsten
Umgebungen erhebt und oben ein fast kreisrundes, becherförmiges, flaches
Becken hat, das bei einem Durchmesser von etwa 15m gegen die Mitte
hin etwa 2 m tief ist. In der Mitte des Beckens führt vom Grunde
aus eine 3 in breite, cylinderförmige Röhre mehr als 20 in in die Tiefe.
Die Außenseite des Bassins zeigt eine gräuliche Farbe, und die Ober¬