Die russischen Ostseeprovinzen.
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Dorfe zugetragen hat. Diese Dichter üben in ihrem heimatlichen Dorfe
eine eigentümliche Art moralischen Einflusses, der sehr gefürchtet ist uud
veredelnd auf die Sitten wirkt.
I. W. O. Richter u. M. von Lindemann.
5. Die russischen Ostseeprovinzen.
1. Die Ostseeprovinzen im allgemeinen. — 2. Land und Leute in Esthland.
1.
Wenn man von Memel auf der großen Petersburger Straße die
weiten Gefilde der drei Ostseeprovinzen durchfliegt, so glaubt man wohl
durch eine Einöde zu fahren, in der nur Wald und Sand, Gestrüpp
und Sumpf abwechseln. Lange Tannenwälder ziehen sich ohne Ende
zur Seite des Weges hin. Hier und da sieht man ein ödes Haus wie
verlassen daliegen. Platt uud ebeu liegt das Bild der Landschaft am
Boden. Nichtsdestoweniger aber hat auch diefes Land seine besondern
Reize und seine Schönheit.
Die Länder, welche die Letten und Esthen bewohnen, liegen in
einer so hohen nördlichen Breite, daß diese kein günstiges Zeichen für
die Milde ihres Klimas sein kann. Der Winter ist 6 Monate lang
und voll von Stürmen, Eis, Schnee und kalten Frosttagen. Der
Sommer ist kurz und heiß; der Herbst trübe, regenreich und schmutzig.
Einen jugendlichen Frühling giebt es kaum. Ganz besonders ist diesen
Ländern die Feuchtigkeit der Lust und des Bodens eigentümlich. Es
tröpfelt hier oft Tage, ja Wochen lang, ohne daß es zu einer kräftigen
Entladung und Aufheiterung kommt. Selbst der Schnee fliegt häufig
mit Regen vermischt herab. Wie die Ostseeprovinzeu zwischen dem
Slaven- und Germanentnme liegen, so liegen sie auch zwischen den
deutschen und den russischen Wetterformen. Die Jahreszeiten scheiden
sich nicht so schroff wie in Rußland, die Übergänge sind aber auch uicht
so mild wie in Deutschland. Der kalte sibirische Wind kann hier nicht
mehr so entschieden herrschen, wo die Ostsee und westliche Einflüsse noch
im Sommer kühlen und im Winter wärmen. Daher findet man hier
ein beständiges Schwanken zwischen Tauen und Frieren, zwischen Schnee
und Regen. In den dunklen Herbstmonaten scheint es förmlich, als
habe die Sonne die Erde verlaffen. Undurchdringliche Wolken decken
einförmig den Himmel, Wege und Stege versinken in Sumpf, und fast
aller gesellige Verkehr gerät in Stillstand. Die schönsten klimatischen
Erscheinungen sind dagegen die hellen Sommernächte uud die Winter-
lichen Nordlichter.
Die große Feuchtigkeit der Luft hat den Boden des Landes zu
einem der fruchtbarsten aber auch sumpfigsten gemacht, so daß in ge-
wissen Jahreszeiten die ganze Oberfläche desselben ein Snmps zu sein
scheint. Die vielen moosigen Kräuter, die den Sumpf deckeu, halten
Meyer, Lesebuch der Erdkunde II. 3