Full text: [Bd. 1, Abth. 1] (Bd. 1, Abth. 1)

20. Die Gletscher. 
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regionen bis an die Grenze, wo das Schmelzen eintrete, so daß er sich fort- 
während verzehre und wieder erneuere. Das Eis bewege sich demnach wie 
ein halbflüssiger Körper; es komme ihm, trotz und bei all seiner sprichwörtlich 
gewordenen Spröde, eine gewisse Zähe und Bildsamkeit, eine Art von Plasti- 
cität zu. Und allerdings ist die Aehnlichkeit des Gletschers mit fließenden 
Stoffen auffällig genug und in der vorhergehenden Skizze bereits mehrfach 
angedeutet worden. Wie jeder andere Strom rollt der Eisstrom die Thal- 
hänge hinab, füllt er die Spalten und Schluchten aus, folgt er ihren 
Gewinden. An jeder stärkeren Senkung, jeder Enge beschleunigt sich seine 
Bewegung; aber sie beschleunigt sich auch in der Mitte, sie beschleunigt sich 
in den oberen Schichten, wiederum wie bei jedem anderen Flusse; selbst 
Katarakten uud Stürze finden sich hier wie dort, und am Ende darf auch 
die gesamte äußere Erscheinung des Gletschers an den Fluß erinnern. 
Die Erklärung aber für diese wunderbare Geschmeidigkeit fand der eng- 
lische Physiker Tyndall, durch Faradays Versuche geleitet, in der Kraft des 
Druckes. Er zeigte, daß man (Schnee und) Eis mittelst des Druckes in 
jede Gestalt zwingen, daß man es aus einer in die andere umbilden, daß 
man es unter Anwendung geeigneter Modelle beispielsweise aus einer Kugel 
in eine Linse, aus einer Linse in einen Ring, aus einem Ringe in einen 
Stab verwandeln uud daß man diese Verwandlungen fortführen könne, ohne 
einen eigentlichen Bruch des Eises, lediglich durch eine leise Verschiebung 
seiner kleinsten Theile. *) Das Eis erscheint also in einem gewissen Sinne 
wirklich bildsam, wie Wachs. Dasselbe aber, was im Laboratorium des 
Physikers int Kleinen geschieht, geschieht im Großen draußen in der Werk- 
stätte der Natur. An die Stelle des künstlichen Modells treten die Wände 
des Thals, durch welches der Gletscher sich bewegt, und statt der hydrau- 
tischen Presse, die dem Experimentator dient, wirkt dort das Gewicht der 
oberen hochgelagerten Firn- und Eismassen auf den ins Thal niedersteigen- 
den Fuß des Gletschers. 
Nur an einem Punkte trifft freil'ch die bisherige Parallele nicht mehr 
zu. Eis ist plastisch unter dem Einfluß eines Druckes; aber es hört auf 
plastisch zu sein unter dem Einfluß einer Dehnung.^ Während sich zähe, 
teigartige Körper, wie Pech, Honig u. dgl. durch Dehnung zu Fäden aus- 
ziehen, so bricht hier dagegen das Eis, wie Glas; und daher denn die zahl- 
losen Spalten und Schlünde, die Abgründe und Abstürze des Gletschers. 
*) In nichts verräth sich die Wirkung des Druckes als in einer Unzahl feinster Linien, 
die sich gleich einer trüben Wolke durch den ganzen Eisblock verbreiten- Eben diese Linien 
aber gebeu den Beweis, daß der Block unter der Gewalt der Presse in uueudliche Spalten 
zerspringt und daß er somit durch eine Verschiebung seiner kleinsten Theile sich nachgiebig 
den veränderten Formen sügt.
	        
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