Full text: [Bd. 1, Abth. 1] (Bd. 1, Abth. 1)

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Zur physischen Geographie. 
III. 
Kllstenbilder bei Ebbe und Flut, 
Auch dem Auge des Laien bietet das Schauspiel der Ebbe uud Flut 
eine Fülle von interessanten Seenen. Die Küsten unserer Meere, zumal da 
wo sie flach sind wie in den Niederlanden, gleichen einem großen Schwämme, 
der sich täglich zweimal bis zun: Ueberlausen vollsaugt uud zweinial sich fast 
bis auf den letzten Tropfen entleert. Fährt man mit der ausströmenden 
Ebbe ab, so schießt das Schiff rasch mit den verlaufenden Gewässern dahin. 
In eiliger Hast stürzen sich mächtige Ströme durch die Mündungen der Flüsse 
in's Meer hinaus. Alle Gewässer sind in Bewegung; aus allen Kanälen, 
Gräben und Adern des Landes strömt es, wie in den Straßen einer Stadt 
nach einem heftigen Regen. Ueberall steigen trockene Länder aus dem Grunde 
hervor und wachsen zusehends an Umfang und Höhe. Jede Insel, an der 
wir vorüberfahren, umgiebt sich mit einem breiten Gürtel von Vorland. Aber 
auch lange Strecken einst untergegangener Landschaften tauchen wie Gespenster 
aus der Tiefe auf, und meist bezeichnet noch die Sage jene Stellen im 
Schlamme, wo vordem blühende Dörfer und Städte lagen. Da die Ebbe 
das Niveau des Wassers an diesen (den niederländischen) Küsten gewöhnlich 
um 15 bis 20 Fuß erniedrigt, so kann man sich denken, wie die darauf fol- 
geude Bloßlegung und Erhöhung aller Dämme, Ufer- und Sandbänke die 
Physiognomie der Gegend verändern niuß. Die Seedeiche scheinen riesenhoch 
zu wachsen, die Bollwerke und Brücken der Häfen strecken sich mit langen 
Piedestalen empor, die Schiffe sinken mit dem Wasser herab und verstecken 
sich in den hochusrigen Rinnen. 
Hat die Ebbe ihren niedrigsten Punkt erreicht, so entsteht zuerst eine Art 
von Stillstand in den Strömen. Es scheint, als wären alle die noch eben so 
rasch eilenden Flüsse plötzlich in stagnirende Seen verwandelt. Allmählich aber 
kommt wieder Leben und Regsamkeit in die versiegenden Gewässer. Doch 
kommt diese Bewegung nun von der entgegengesetzten Seite. Das Meer drängt 
erst leise rückwärts. Die süßen Gewässer, welche aus dem Innern des Landes 
her sich einen Ausgang erringen wollen, gerathen mit ihn: in Streit. Aus 
diesem Streit entsteht vieler Orten eine Menge von Wirbeln, die erst klein 
sind, aber immer mächtiger sich schwingen, je größer der Andrang des Meeres 
wird. Endlich siegt Oeeanus. Seine Schulter hebt sich gewaltig, und er 
zieht triumphirend zu allen Thoren des Landes ein. Es ist, als wollte er 
seine ihm tributpflichtigen Fluß-Nymphen zu Paaren treiben. Sie müssen 
weichen, und wie bei Aeneas' Ankunft in Latium der Tiber 
„rückwärts ebnete der Wellen Erguß,"
	        
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