2. Ebbe und Flut. 41
so fliehen sie alle landeinwärts den Bergen zu. Alle kleinen und großen
Kanäle des Landes füllen sich mit flüssigem Stoff. Alle andern schwellen bis
an dm Rand. Man erinnert sich jenes Briefes, in welchem Plinius der
Jüngere das allmähliche Wachsen des Wassers in einer periodischen Quelle
am Comersee so interessant beschreibt, und man staunt, dasselbe Schauspiel
hier auf eine großartige Weise und tausendmal vervielfältigt vor sich zu haben.
Die weiten kahlen Sandbänke schmiegen sich gemach wieder unter die feuchte
Decke des Oceans, zu dessen Gebiet sie gehören. Die Menschen, die Fischer,
die Austern- und Krabbensucher, die Strandspaziergänger, die für ein paar
Stunden diesen Boden in Besitz nahmen, ergreifen die Flucht und verbergen
sich hinter ihren Dämmen und Deichen. Die Inseln, deren Außen- und
Vorlande verschwinden, schmelzen auf die Hälfte ihres Umfangs zusammen.
Kleine Landestheile, die noch so eben mit dem Festlande verbunden waren,
lösen sich und werden zu Inseln. Die Hafendämme der Städte, vorher
riesengroß, schrumpfen fast zu Nichts zusammen. Auf den immer mächtiger
schwellenden Wassern hebt unser Schiff sich stolz in die Höhe. Wir schauen
über die Dämme hinweg in's Innere des dahinterliegenden Landes hinein, das
allmählich untergehen zu wollen scheint. Da überall sich die Wassertiefen um
10 bis 15 Fuß vermehren, so werden Gräben, die einige Stunden zuvor
kaum ein Boot zu tragen vermochten, selbst für große Fahrzeuge schiffbar.
Alle Schiffe, welche die Ebbe auf den Sand setzte, und die schief auf die Seite
gebeugt dalagen wie Fische, die der Sturm an's Land warf, richten sich
gemach wieder empor, spannen von neuen: die Segel und lösen sich endlich
aus dem zähen Schlammboden, um frei auf dem klaren Elemente dahinzu-
schweben. Nun wird in allen Häfen und an allen Ufern gerüstet. Schiffe
aller Größen und Arten richten die Mäste, lichten die Anker und tragen ihre
Reisenden, ihre Waaren, ihre Botschaften von Ufer zu Ufer. Auch die großen
Seefahrer, die vor den Mündungen der Ströme den Moment der Fluthöhe
erwarteten, ziehen landeinwärts und schwimmen mit gebauschten Segeln und
vollem Wasser in die sicheren Thore des Festlandes.
Viele Maler haben das Anregende und Ansprechende, das in diesem
täglich sich wiederholenden Wechsel von Ebbe und Flut liegt, sehr wohl
empfunden und es in besondern Genlälden dargestellt. Es ist aber bemer-
kenswerth, daß es weit mehr Ebbe- als Flutbilder giebt, und in der That
ist auch die Ebbe viel ergiebiger in Erzeugung malerischer Scenen als die
Flut. Die Ebbe ist poetischer, wie die Armuth, das Unglück und die Roth.
Da liegt das arme Schiff gestrandet am Ufer und erweckt unser Mitleid.
Da kriecht das Bettelvolk der Küstenstädte, da kommen die zerlumpten Kinder
und die armen Muschelsammler und Krabbenfänger hervor und schleichen an
den Bollwerken der Häfen herum, an denen ihre Ernte gereift ist: die Muscheln,