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ansieht, ober die Tautropfen auf dem Grase „Tränen" nennt, so über-
treibt seine Phantasie nur mehr als die des Erwachsenen. Von einer
ähnlichen phantasievollen Deutung der Gegenstände zeugen die Bei-
spiele, die S u l l y (S. 29) erwähnt, daß das Kind dem Stein, den
es sieht, eine Art Seele zuschreibt und davon spricht, daß er „seines
Platzes überdrüssig" sei und „fortgetragen sein möchte", um einen
andern Platz zu bekommen. Aus Kindermund stammen Ausdrücke
wie z. B.: „Mutter, die Lampe steckt die Zunge heraus!" Der La-
ternenanzünder wird ein Lichtmann, die Peitsche ein Knallstock, das
Klavier eine Bimbim-Kommode. Der halb gekrümmte Schwanz des
Hundes veranlaßt den Ausruf: „Der Hund wackelt mit dem Henkel?"
Ähnliche Beispiele der lebhaften Art, sinnliche Gegenstände phan-
tasievoll umzudeuten, kann jeder Beobachter der Kinder anführen.
Kinder besitzen ein stark personifizierendes Element; sie sehen das,
was wir Erwachsene als leblose Gegenstände und mechanische Vor¬
gänge nüchtern feststellen oder beschreiben, als belebte Wesen und
Erscheinungen persönlicher Kräfte an. Die schwarzen Buchstaben der
Bilderbücher werden ihm zu Männern; Hausgeräte und Spielzeug
werden von ihm gefühlvoll gestreichelt. In den wirren Linien, die
es auf ein Stück Papier kritzelt, sieht es die wundersamsten Dinge,
die der Erwachsene mit dem besten Willen nicht entdecken kann.
Auch die exakte Forschung hat diese Tatsache bestätigt. So sagt
Meumann („Vorlesungen", Band 1, S. 124): „Wo wir die
kindliche Wahrnehmung im Experiment angreifen, bei der experi-
mentellen Analyse seines Lesens, beim Anschauung?- und Aussage¬
versuch, bei der Prüfung des Vorstellungskreises des neueintretenden
Schulkindes, bei der Verwertung seiner ersten Zeichnungen für das
Studium dessen, was an Dingen aufgefaßt — überall stoßen wir aus
dieses naive Assimilieren von Erwartungsvorstellungen und besonders
von Phantasievorstellungen mit den gegebenen Eindrücken." Als
natürliche Folgerung liegt es nahe, dem Gesühlselement und der
Phantasietätigkeit gewisse Schranken aufzuerlegen, das per-
sonifizierende, schrankenlose Ausgestalten zu lenken durch die Be-
obachtung des Wirklichen, vor der Verbindung der Elemente zu An-
schauungen und Gesamtvorstellungen auf ihre saubere Gewin-
nung methodisch Nachdruck zu legen.
Dazu nötigt auch ein anderes Merkmal der Auffassungsweise des
Kindes: seine Art, Dinge zu betrachten, ist äußerlich, ober-
f l ä ch l i ch. Es nimmt wohl die Objekte der Außenwelt wahr, es
sieht ihre Farbe, weiß, wie weit sie räumlich voneinander abstehen, sein
Gesichtssinn ist unzweifelhaft ebenso stark, wie der des Erwachsenen,
gleichfalls ist die Sinnesschärfe des Gehörs trefflich. Das Kind hört
die Laute, die ein Tier von sich gibt und erkennt die Stimme der
Mutter schon ganz frühzeitig aus einem Stimmengewirr heraus. Es