112 Charakter-Vögel Südamerikas.
welches sich willkürlich am weitesten von der Oberfläche unseres
Erdballes entfernt.
7. Die eigentlichen Zaubervögel der neuen Welt aber sind
die winzigen Kolibris, diese „Vogelmücken, mit Rubin-, To-
pasen- und Smaragdleibern," die wie das farbige Rädchen eines
Feuerwerkes die Blüten umstimmen, mit ihren langen, dünnen
Schnäbeln ihr Futter — Honigsaft uud kleine Infekten — aus
den Kelchen derselben im Fluge nippen oder naschen. Wenn
ein Kolibri vor einen Blütenbüschel kommt, so ruht er gleich-
sam zwei oder drei Sekunden so fest auf seinen verhältnismäßig
langen Flügeln, daß dieselben unter den raschen Schwingungen
unsichtbar werden oder nur wie ein farbiges Nebelwölkchen er-
scheinen; dann aber schießt er plötzlich auf den Gegenstand seines
Appetites los, nicht als wollte er den Blumen etwas nehmen,
sondern vielmehr ihnen seine eigene lebendige Seele einhauchen
als Genius und Bote des Schöpfers, der ihn mit allen den
Reizen ausgestattet und in ihm den tropischen Teilen der neuen
Welt vielleicht ihren schönsten Schmuck verliehen hat; denn unter
allen beseelten Wesen ist der Kolibri das zierlichste der Gestalt
und das glänzendste dem Kolorite nach. Die durch unsere Kunst
geschliffenen edlen Steine und Metalle sind diesem köstlichen Ge-
schmeide der Natur nicht zu vergleichen. Sie hat ihn — mit
Ausuahme des Gesanges, der ihm fehlt — mit allen Gaben
überschüttet, welche den übrigen Vögeln nur vereinzelt beschieden
worden sind: Leichtigkeit, Geschwindigkeit, Gewandtheit, Anmut,
üppiger Farbenschmuck — alles ist diesem ihrem kleinen Lieb
linge zu teil geworden. Alle Edelsteine funkeln auf seinem Ge-
fieder, das er nie mit dem Staube der Erde beschmutzt; denn
sein ganzes, durchaus ätherisches Leben hindurch sieht man ihn
kaum auf Augenblicke den Rasen berühren; er ist stets in der
Luft, von Blume zu Blume gaukelnd, deren Frische wie deren
Glanz ihm eigen ist; er nippt von ihrem Nektar und bewohnt
nur die Himmelsstriche, wo sie sich immerdar erneuen, im Ge-
leite eines ewigen Lenzes. Nirgends aber kommen die Kolibri-
arten in größerer Menge und Mannigfaltigkeit vor, als in den
Urwäldern Guyanas und in Brasilien. In jenen unermessenen
Einöden, wo sich ohne Unterlaß neue Blumen und Blütenfloren
erschließen, wohnen diese zarten Blumenspechte besonders auf
den hier uud da vorkommenden Blößen. Ragt jedoch von dem
Hange irgend eines Hügels ein hoher Erythrinenbaum, oder