Full text: Tier-Geographie (Abt. 2)

22 Charakter-Säugetiere Europas. 
kommen nie in die Wälder herab. Sie sind etwas kleiner, aber 
auch mutiger und wilder und ihr Fleisch ist schmackhafter als 
das der Waldtiere, die tiefer Hausen und im Winter in die 
Wälder und sogar zuweilen in tiefe Thäler hinabgehen. Doch 
macht sie ihre Schnelligkeit und Behendigkeit nicht sicher; viel¬ 
mehr ist die Gemse ein Sinnbild der Wachsamkeit: sie sieht sich 
beim Weiden jeden Augenblick um, wittert nach allen Seiten, 
giebt die geringste Gefahr durch ein lautes, durchdringendes 
Pfeifen zu erkennen, worauf sie, wenn die Gefahr als eine 
wirkliche sich zeigt, schnell die Flucht ergreift. Den Hals kann 
sie fo strecken, daß sie, an einen Baum oder Felsen gelehnt, 
2 m hoch reichen kann. Sie bedarf aber auch der Wachsamkeit; 
denn auf der Erde, wie in den Lüften lauern zahlreiche Feinde 
aus sie: dort Luchse, Bäreu uud Wölfe, hier Adler und der 
kühne Lämmergeier. Ihr gefährlichster Feind ist aber der 
Mensch, der unablässig auch dieses friedliche und nützliche Tier 
verfolgt, so gefährlich und mühsam auch seine Jagd ist. 
Der Gemseujäger muß einen freien Kopf, ein gutes Gesicht und 
sichere Füße haben; damit er über die steilsten Klippen, neben den 
schrecklichsten Abgründen, über die überhangenden Abhänge gehen könne, 
darf er vom Schwindel nichts wissen. Er muß sich gewöhnen, über 
Eisfelder und Gletscher zu gehen, Sturm, Uugewitter und Kälte zu 
ertragen. Mitten in der Nacht, oft schon am Abend, verläßt er, mit 
einem langen, starken, unten mit Eisen beschlagenen Alpenstocke und 
seiner guten, weittragenden Büchse, Pulver uud Blei versehen, seine 
Wohnung, und noch ehe die Sonne aufgeht, durchspäht er mit scharfem 
Auge die höheren Gebirgsregioueu, beobachtet die Richtung des Windes 
und geht gegen denselben, damit die Gemsen ihn nicht wittern. Als 
Windzeichen bedient er sich eines Haares, welches er in die Luft hält. 
Bemerkt er nun eine Gemse, so wartet er hinter einem Felsen oder 
einem andern, ihm gelegenen Orte, bis das Tier sich von dem Weide- 
platze zurückzieht und er es sicher aufs Korn nehmen kann. Da aber 
die Gemse mit vorrückendem Tage immer aufwärts zieht, so sucht er 
womöglich höher als sie zu kommen, so daß sie ihm zum Schusse 
kommt. Sobald er die Hörner der Gemse gewahrt, schießt er. Da 
aber die Gemse — ganz verschieden von dem zart organisierten Stein- 
bocke — ein sehr zähes Leben hat und auch selbst bei starken Ver- 
wnndungen sehr oft entkommt, so muß der Jäger gut zielen und Brust 
oder Kopf zu treffen suchen; ^enn ein anderer Schuß bringt das Tier 
schwerlich in seine Gewalt. Selbst auf drei Beiueu läuft sie noch davon, 
und oft trifft man solche, denen die Knochen von selbst wieder zu- 
sammengewachseu sind. — Ist aber nun die Gemse glücklich erlegt, so 
beginnt neue Mühe und Gefahr für den Jäger, seine Beute in weg- 
same Gegenden zu tragen. Zu dem Zwecke wird das Tier ausgeweidet,
	        
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