208 Der Lauf des Flusses.
und an Stelle des Schlammdeltas tritt das Wasserdelta, das so-
genannte Ästuarium oder hohle, negative Delta, d. h. ein
breiter, trichterartiger Busen. In riesenhaftem Maße zeigen
Mündungen solcher und ähnlicher Art der Amazonas, der
Laplata, der Lorenz, und hier, wo das Wasser sich in einer
Breite von dreißig, vierzig und mehr Meilen ergießt, versteht
man den chinesischen Ausdruck, der diese Stromgolfe „Söhne
des Ozeans" nennt. Aber auch die geschlosseneu Limans^)
des Ob, des Jenissei, des Dnjepr, der Lena wie die offenen
Ausflußbecken des Severn, der Gironde u. a. bieten noch immer
ein imposantes Schauspiel. Segelt man etwa auf der zuletzt-
genannten Mündung hinab, so wächst die Breite des Stroms
fast zusehends uud trägt den Blick zwischen den fern uud ferner
auseinander tretenden Ufern herüber uud hinüber, bis dieselben
endlich ganz verschwinden. Nur hie und da tauchen noch am
Horizont ein paar schlanke Strandfichten aus den sonneblitzenden
Wasserlinien empor, und wird das Senkblei geworfen, so er-
staunt man, bei kaum 33 in Grund zu finden. Grüne und
gelbbraune Strömungen kreuzen sich verworren, bilden hier lange
nebeneinander hinziehende Straßen und breiten sich dort zu
weiten Flächen, ruhig wie Öl, während sie an andern Stellen
sich in wilden Wirbeln und Strudeln verschlingen und brandend
aufschäumen nicht anders, als ob ein Knäuel von Flüssen in
dem weitem Bette feindlich auf- uud niederwoge. Und in der
That findet hier ein beständiger Kampf statt. Denn zweimal
in vierundzwanzig Stunden sperrt die steigende Flut des Ozeans
den austretenden Strom und schleudert ihn meilenweit zurück,
bis die zurückkehrende Ebbe demselben wiederum freiere Bahn
giebt.
i) Vom griechischen h\uvq, d. i. See, Sumpf.
Druck von W. Hartmann in Leipzig-Reudnitz,