Reise nach Kreta. 9
Dann gab ihm der Vater den goldenen Ring des Minos, und im göttlichen
Schmucke kehrte er zurück an die Oberwelt. Da scheute Minos den Götter-
söhn, und er bewirtete ihn und die anderen Gefangenen in den nächsten Tagen
als geehrte Gäste in seinem Palaste. Dort erblickte den Theseus die wunder-
schöne Tochter des Minos, Ariädne; sie sah, wie jung und schön der
Fremde war, und sie beschloß, ihm zu helfen, und zwar auf sehr ein-
fache Weise. Sie gab ihm nichts als ein Knäuel Garn, und das wurde
Meergötter. Römisches Relief.
seine Rettung. Die Gefangenen wurden nämlich stets in das Labyrinth
geführt, einen Riesenbau mit zehntausend Zimmern und zahllosen gewundenen
Gängen. Dort fraß sie der Minotauros, wenn er sie fand, und er fand am
Ende jeden, denn niemand konnte aus dem Gewirr des Labyrinthes wieder
herausfinden. — Als nun Theseus und die Seinen hineingeführt wurden,
ging er selbst gesenkten Hauptes als letzter, als sei er sehr traurig. Unbemerkt
von den Führern knüpfte er das Ende seines Garnknäuels in der Nähe des
Eingangs fest, und nun schritt er mit den anderen weiter und wickelte dabei
das Garn ab. Als man tief drinnen war, verschwanden plötzlich die Führer
durch eine Seitentür, und die verlassenen Kinder wollten schon verzweifelt
nach allen Seiten fliehen. Aber mit strengem Worte hielt sie Theseus zu-
sammen und harrte des Minotauros. Brüllend kam bald das Ungetüm auf
die zitternde Schar herangestürzt; aber Theseus — obgleich er ohne Waffen
war wie die andern — trat ihm entgegen und rang mit ihm, bis er es
erwürgte. Jubelnd umringten die Mädchen den Sieger, und die Knaben
bestaunten das tote Ungetüm mit dem mächtigen Stierkopf. Dann nahm
Theseus lächelnd sein Garnknäuel, wickelte den Faden wieder auf und ging
ihm nach, so daß sie sicher an den Ausgang des Baues kamen. Noch lag
das athenische Schiff im Hafen, schnell eilten sie dahin, und niemand durfte
sie aufhalten: der Minotauros war tot, der Vertrag gelöst. Mit ihnen fuhr