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„Gott sei Dank, daß das langweilige Vieh mit seinem Gebimmel
endlich abzieht," murmelt er vergnügt vor sich hin, „jetzt bekommen die
Berge doch endlich eine Ruh, und man braucht nicht zu fürchten, auf
jedem Pirschgang — jedem Joch, statt ein Rudel Gemsen eine Herde
Schafe anzutreffen."
Die Poesie der Berge verträgt sich recht gut mit der Jagd und der
echte Jäger weiß sie gewiß zu würdigen, denn sein ganzes Leben und
Treiben ist poetisch; aber sie darf ihm nur nicht ins Gehege kommen,
sonst sind sie eben die längste Zeit Freunde gewesen. Wo sie die Aus-
Übung seiner Jagdlust stört, hat sie für ihn aufgehört Poesie zu sein,
und — wenn er sie nicht zum Teufel wünscht, geschieht das nur in
einzelnen Fällen aus ganz besonderer Rücksicht.
Aber das Gebirg wird schon wilder. — Rechts von uns ragt eine
hohe schroffe Steinwand, von der Sonne mit ihrer flammenden Glut
Übergossen, wie eine riesige Silberstufe auf; nach links zu öffnet sich
jetzt das Thal, und herüber grüßt da plötzlich mit seiner scharfgeschnittenen,
schneebedeckten Pyramidenkuppe der Schafreuter, während weiter nach
vorn, wo jetzt die Reuß sich in die Isar gießt, der Stuhlkopf und da-
hinter der gewaltige Steinkegel, der große Falken sichtbar wird. Das
sind alte Bekannte, alte Freunde, und es ist fast, als ob sie die mäch-
tigeu Hälse reckten und freundlich herüberwinkten, uns zu grüßen.
Nein, es war nur Täuschung. In grimmiger stolzer Majestät stehen
sie dort, und bieten den Jahrhunderten die Stirn. Ob sie Orkane
umrasen, ob der Föhn durch ihre Schluchten tobt, und die Lawinen
von ihrem Nacken niederdonnern, das Entsetzen in die Thäler wirft —
oder ob kosende Frühlingslüfte ihre Hänge nnd Wände und Blüten
deckten, was kümmert's sie. Geschlechter gehen und kommen und ver-
gehen aufs neu, und starr und trotzig recken sie die Häupter nach wie
vor dem blauen Äthermeer entgegen.
Da hinein — an jenen Wänden hinauf, jene Schluchten mit ihren
eingerissenen Klammen und schwindelnden Abgründen kreuzend, bald
aus, bald nieder, jetzt ein Laatschendickicht durchdringend, jetzt über
rollendes Gestein mit flüchtigem Fuße hinüberspringend, liegt unsere
Bahn, und wirklich nur der. der selbst die Jagdlust — die Leidenschaft
der Jagd kennt und mitfühlen mag, wird auch begreifen können, wie
Menschen mit zäher Ausdauer, allen Strapazen, allen Gefahren trotzend, in
diefe Berge klettern können, das scheue flüchtige Wild, die Gemse zu erlegen.
Wenn auch manches Märchen über diese Art Jagd erzählt ist, das
den gemütlichen Leser im flachen Lande unnötigerweise mit Schaudern
und Entsetzen erfüllte — wenn er auch nicht z. B. zu glauben braucht,
daß sich der Gemsjäger die Schuhe und Strümpfe ausziehe und die
nackten Sohlen aufschueidet, um mit seinem eigenen Blute an den glatten
Hängen und Gletschern zu kleben, bieten doch die schroffen Wände in
Wirklichkeit der gefährlichen Plätze genug, die Jagd eben interessant
zn machen.