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Seligkeit leiten. Gleich an der nächsten Straßenkreuzung sitzt unter 
dem Dache einer Tabaksbude ein türkischer Notar, die Papierrolle in 
der Hand und die metallene Federbüchse mit dem als Deckel dienenden 
Tintenfaß im Gürtel. Hier harrt er seiner Kunden, die zu Kontrakten, 
Briefen n. s. w. seine Hilfe in Anspruch nehmen. Selbst Derwische 
oder türkische Mönche, die in allen morgenländischen Märchen und Er- 
Zählungen ein große Rolle spielen, und deren Sekten sich durch die 
Farbe ihrer Kleidung unterscheiden, erscheinen im Straßengewühl. 
Ihre langen Kaftans flattern ohne Gürtel frei um die Hüfte und sind 
bald hellbraun, bald weiß, und bei dem Orden, der für den ehr- 
würdigsten gilt, grün. Auf dem Kopfe baben sie einen Hut von 
weißem Filz, einen Fuß hoch und in Form eines abgekürzten Kegels. 
Der Anzug des niedrigsten Volkes, der Wasser- und Lastträger, 
der Tagelöhner und Obsthändler läßt sich nicht beschreiben, da jeder 
anzieht, was ihm geschenkt ward oder was er wohlfeil kaufte. Hier 
vereinigen sich alle Trachten zu dem sonderbarsten Bilde. Einige 
tragen Kaftans, die meisten kurz abgeschnittene, runde Jacken, die bei 
den Wasserträgern von Leder sind. Die Beinkleider, vom Gürtel bis 
zum Knie sehr weit, umschließen eng die Wade bis zum Fuß. Fast 
alle tragen den Turban von beliebiger Farbe, viele von grünem Zeug, 
was diese als Nachkommen des Propheten bezeichnet: eine Ehre, die 
ihnen weiter nichts als den Titel „Emir", d. i. Herr oder Fürst, ver- 
schafft. Es ist trübselig, daß man die meisten dieser Fürsten gerade 
unter den Tagelöhnern und Bettlern findet. 
4. Der Bosporus.* 
Es giebt drei verhängnisvolle Stätten auf der Erde, drei Welt- 
ringe, an die sich die Schicksalssäden des menschlichen Geschlechts 
hängen: am Jordan, an der Tiber, am Bosporus. Fast so 
lange als unser Geschlecht Geschichte macht, war es dem magischen 
Schimmer der drei ewigen Städte unterthan. Jerusalem ist die 
Wiege, Rom das Sinnbild des Christentums; sein Gegen- 
sah Konstantinopel mit dem erstarrten Morgenlande. 
„Wie eine ungeheure Wasserschlange in sieben Windungen" streckt sich 
diese Meerenge drei Meilen lang vom Meere von Marmara zum 
schwarzen Meere hin, welches seine Fluten in jenes ausgießt. 
Sind die nächsten Umgebungen der alten Konstantinsstadt landeinwärts 
wenig angebaut, kahl, öde und menschenleer: so sind dagegen die 
Thäler, die Abhänge und Gestade des Bosporus entzückend und seit 
Jahrtausenden der gepriesene Wohnsitz einer dichten Bevölkerung und 
sorgfältigen Kultur. Anmutige Gärten, Lustwäldchen, Flecken und 
Dörfer, Sommerpaläste, Landhäuser und Kiosks (türkische Garten- 
Häuser), prächtige Springbrunnen und die auf Vorgebirgen und Höhen 
* I. Meyer.
	        
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