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Von einem der höchsten Berge leuchtete eine Riesenburg, nach
arabischer Weise erbaut, in's Thal hernieder. Außer der prachtvollen
Kathedralkirche zählte die Stadt noch vierzig andere Kirchen; Mönchs-
und Nonnenklöster, Kapellen waren in verschiedenen Gegenden ver-
theilt. Die Lage des königlichen Palastes war überaus schön; denn
aus seinen Fenstern sah man die vor Anker liegende zahlreiche
Flotte und die in dem mächtigen Hasen aus allen Weltgegenden
ankommenden oder dahin segelnden Schisse.
Aber Lissabons Herrlichkeit sollte untergehen und in seinem
alten Glänze nicht wieder auferstehen. Der erste November des
Jahres 1755 war für die Hauptstadt ein Tag der Verwüstung und
des Entsetzens. Tausende, die sich am Morgen des Lebens noch
sreueten, waren erschlagen, verbrannt, ertrunken, ehe der Abend
grauete; die prächtigsten Paläste lagen in Trümmern umhergestreut.
Dies Erdbeben zeigte sich in einer Ungeheuern Ausbreitung
und wurde in Europa, Asien und Amerika verspürt. Aber am
härtesten sollte Lissabon heimgesucht werden. Am Morgen des jammer-
vollen Tages kündigte es kein Zeichen in der Natur an, wie schreck-
lich der Abend enden werde. Der Himmel war heiter, die Sonne
glänzte, es regte sich kein Lüftchen, und dem verderblichen Sturme
ging eine sichere Ruhe vorher.
In andachtsvollen Gebeten war die Volksmenge um die Altäre
niedergesunken; eine religiöse Feier durchdrang am Feste aller Hei-
ligen die Seelen der Heiligen, als sich etwa um zehn Uhr in den
Straßen ein donnerähnliches Rollen vernehmen ließ. Darauf folgte
ein Stoß und ein Schwanken und Wogen des Erdbodens. Mehr
bedurfte es nicht, um Kirchen, Paläste und Hütten in Schutthaufen
zu verwandeln. Für Tausende waren die eingestürzten Wohnungen
ein Grab geworden, wo sie unter Balken und Mauerwerk ver-
schüttet lagen.
Den Tumult, das Gedränge, das laute Geschrei und Wehklagen,
was die Tempel erfüllte, die das Erdbeben noch verschont hatte,
den raschen Uebergang von der stillen Andacht zu dem Todesschreck
kann ich euch nicht beschreiben.
Der erste Erdstoß warf das Haus der Inquisition um, in
dem viele Unschuldige gerichtet wurden, als ob Gott diese Stätte
ungerechter Grausamkeit vertilgen wolle. Der königliche Palast mit
allen seinen Kostbarkeiten war verschwunden. Mit einem Schlage
waren alle Bewohner in dem prächtigsten Jesuitencollegio getödtet,
als das Gebände einstürzte.
Tausende hatten sich auf den öffentlichen Plätzen versammelt
und hofften da Rettung zu finden; aber sie fanden sie nicht. Ein
Hagel von Ziegeln, Balken und großen Werkstücken fiel auf sie
nieder, zerschlug und zerquetschte sie. Kinder, Greise und Kranke