So geschah es, und mancher, der noch am späten Abend vorüber¬
ging, sprach zu sich: „Da hält die Königin Hochzeit! Die Treulose
hat also doch nicht länger auf Odysseus gewartet." 35
3.
Odysseus ließ sich unterdessen baden und salben. Als er darauf,
mit königlichen Kleidern angetan, in den Saal zurückkam, hatte
ihm Athene die ganze Stattlichkeit und Schönheit des Aussehens
zurückgegeben, die er vor seiner Verwandlung gehabt.
Er setzte sich wieder seiner Gemahlin gegenüber und sprach 5
zu ihr: „Du hast wahrlich ein hartes Herz wke keine andre Frau.
Nun Mütterchen", wandte er sich zu Eurykleia, „bereite mir das
Lager, damit ich zur Ruhe gehe. Ihr Herz ist ja von Eisen."
Penelope befahl der Alten: „Schaffe sein Bett aus dem Schlaf¬
gemach heraus und breite weiche Decken darüber." io
Dabei sah sie Odysseus scharf an, denn dies war die Probe,
durch die Penelope erkennen wollte, ob der Fremde wirklich ihr
geliebter Odysseus sei. Hätte er in ihrem Befehl nichts Auffallendes
gefunden, so wäre sie überzeugt gewesen, daß der Bezwinger der
ruchlosen Freier nicht Odysseus, sondern der Schützling eines Gottes 15
sei, in seine Gestalt verkleidet, um sie zu täuschen.
Aber Odysseus fiel ihr sogleich ungehalten in die Rede und
sagte: „Wie sollte einer wohl das Bett hinausschaffen? Es müßte
ein Gott sein, dem alles möglich ist, auch der stärkste Mann würde
es vergebens versuchen. Denn auf dem Platze, wo jetzt das Schlaf- 20
gemach ist, stand der Stamm eines kräftigen Olbaums, er war
so dick wie eine Säule. Um den herum baute ich das steinerne
Schlafgemach, und als es fertig und rings geschlossen war, schnitt
ich den Stamm bis zur Höhe eines Bettfußes ab und arbeitete die
andern Teile des Bettes hinzu, schmückte es auch mit Gold und 25
Silber und Elfenbein. Ich will nicht fürchten, daß der festgewachsene
Fuß indessen abgesägt und das Bett von der Stelle gerückt ist."
Penelope konnte sich vor innerer Bewegung kaum auf den
Füßen erhalten, als sie hörte, daß der Gast mit dem Erkennungs¬
zeichen völlig vertraut, also ohne Zweifel ihr lange ersehnter 30
Odysseus war. Die Tränen stürzten ihr aus den Augen, sie schlang
beide Arme um den Hals des Gatten und küßte ihn immer wieder
und wieder. „Jetzt bin ich deiner gewiß", rief sie, als sie wieder
sprechen konnte, „da du die Zeichen unseres Lagers weißt, die
8*