Anhang.
Die geschichtliche Lektüre.
„Wenn ich lese, will ich mich sammeln."
Goethe.
Kannst du lesen? Die Frage klingt absonderlich, ist es aber nicht.
Denn lesen heißt für den denkenden Menschen nicht: mit den Augen
oberflächlich über die Zeilen fahren, sondern: geistig sammeln, „auf¬
lesen", was die Worte, die Sätze an fremden Gedanken umschließen.
Diese recht auf sich wirken zu lassen, sie in sich aufzunehmen und zu
würdigen, um eigene Gedanken daraus zu gewinnen, ist die
Aufgabe der Lektüre, d. H. Lesung. Richtiges Lesen soll uns also
über den Buchstaben stellen, nicht unter ihn. In diesem SiNne
sagt Lichtenberg: „Lasse dicht von deiner Lektüre nicht beherrschen,
sondern herrsche über sie!"
Lesen ist gleichsam eine Kunst, und diese Kunst will wie jede an¬
dere gelernt und geübt sein. Wohl dem, der zu ernster Lektüre greift,
der im Lesen nicht Zeitvertreib sucht, sondern geistige Bereicherung!
Es geht mit der Lektüre eines klassischen Buches, wie mit dem An¬
schauen eines Kunstwerkes, etwa eines Gemäldes: wie bildet und
veredelt es den Geist! Auch ohne daß man sich gerade zu sagen vermag,
worin seine Schönheit im einzelnen beruht, wodurch es im besonderen
wirkt, erhebt es uns unvermerkt zu höheren Empfindungen. Das
gilt ganz besonders auf dem Gebiete der Geschichte, und darum
bedenke wohl das Wort von Rückert: „Was nicht zweimal lesenswert,
das ist nicht einmal lesenswert!"
Doch wie soll nun im einzelnen gelesen werden? Damit die
Lektüre der Geistesbildung wirklich förderlich sei, muß Methode
in ihr sein, d. H. sie hat sich nach bestimmten, durch die Erfahrung
erprobten R e g e l n zu richten. Als hauptsächlichste beachte folgende:
1. Lies mit Aufmerksamkeit und in Ordnung.
Richte deine Gedanken ganz auf das Buch. Nicht naschen und nippen,
sondern ernten! Lesen ist studieren, und lernen können wir nur durch
Aufmerken. Zerstreutheit und Oberflächlichkeit vertragen sich nicht
mit dem Ernste eines Buches, aus dessen Blättern Klio, die hohe
Muse der Geschichte, zu uns redet.