Full text: Lesebuch der Erdkunde

50 Einleitung. B. Die hauptsächlichsten Vodengestalten der Erdoberfläche. 
die mächtigen Bergstöcke mit jähen Vorgebirgen nach einander und hinter einander in das 
tiefe Seethal hinab. Thal hinter Thal, Gebirgsstock hinter Gebirgsstock, alles eng und 
schroff iu einander greifend, baut und türmt sich die Felsenwelt bis tief nach Süden auf. 
Tief iu das Gebirge eingeschnitten steigt vom hintersten Seebusen das Renßthal gegen 
Süden auf. beherrscht von der Eispyramide des spitzigen Bristenstocks (3075 m), und 
rechts von ihm sieht man weit hinten den Crispalt und links den Lukmanier, die Quellen- 
Häupter des Rheins. Der St. Gotthard aber steht bereits zu weit südlich in der Hinteren 
Hochgebirgskette, nur den engen Spalt seines Passes sieht man aus dem Rigi. 
§ 45. Erst wenn man sich am Alpenanblick satt geschaut, weudet man sich anch West- 
und nordwärts, wo in dem Rahmen zwischen Pilatus und Säutis in unermeßlicher 
Ausdehnung das weite, weite Flachland mit seinen Seen und fernen Höhenzügen samt 
dem Jura hinzieht. Landschaft hinter Landschaft, Hügel hinter Hügel zieht die große 
Hochebene der vordem Schweiz erfüllt mit Ortschaften hin, und hinter ihr am äußersten 
Gesichtskreise rechts in langen Linien Oberschwaben und der schwäbische Jura, mitten der 
Schwarzwald, links der Schweizer Jurazug. Alles das kann freilich nicht die Seele be- 
wegen wie die hehre Alpenwelt; aber doch interessiert es ein wenig, daß man von dem 
einen Berge aus den größten Teil der Schweiz überblickt und noch nach Deutschland 
nnd Frankreich hiueinschant, und daß man so viele einzelne Punkte sieht, den Züricher 
See und Zürich selbst mit seinem Ütliberg, von Oberschwaben die Waldburg, den Bussen 
nnd den Heiligenberg, dann die Plutonischen Felsberge des Hegau, deu Räuden und da- 
hinter den Dreifaltigkeitsberg und den Fürstenberg bei Donaueschingen, den Feldberg 
des Schwarzwaldes, selbst die Vogesen und bei hellem Wetter das Münster von Straß- 
bnrg im Rheiuthale, dann den Weißenstein und andere Höhenpnnkte des Schweizer Jura. 
Gar hübsch zieht durch den Mittelgrund des Hügelgeländes das (mittlere) Thal der Reuß 
mit dem silbernen Spiegel des Flusses, und ans dem Entlibnch das Thal der Emme und 
deren Einmündung in die Reuß; dann die mancherlei Seen im Hügellande, — im ganzen 
sieht man 14 große und kleine Seen ans dem Rigi. — Und doch enthält auch dieses Herr- 
liche, erhabene und milde Bild ein Stück von der Nachtseite unseres Erdenlebens, — den 
grausenhaften Bergsturz des Roßberges, desseu lange Lehne wohl eine Stunde lang 
hinab in das Thal reicht und das furchtbare Chaos der Felsentrümmer daselbst, das im Jahr 
1806 die „goldene Aue" mit ihren Dörfern überschüttete und eine Menge Menschen lebendig 
begrub. (In den Gebirgen des Voralpenlandes liegen oft unter festen und mächtigen Fels- 
schichten wieder Lehm- oder Sandlager, die durch laugen Regen erweicht unter der nn- 
geHeuern Last am Ende weichen, wodurch die aufgelagerten Felsbänke notwendig sich zer- 
spalten und endlich herabstürzen. Daher die häufigen Bergschlipfe.) Das Andenken an 
den Schreckenstag von Goldan wird alljährlich am 2. September in Arth durch eine reli- 
giöse Handlung „die Schuttjahrszeit" gefeiert. — Ein fröhliches Hirtenfeft dagegen wird 
von den Anwohnern des Rigi am 22. Juli beim Hospiz (Klösterli), und die Sennen- 
kirchweihe am 10. August im Kaltbad gefeiert, wobei die Älpler der umliegenden Urkantone 
ihre Wettkämpfe halten. 
§ 46. Der Rigi wird alljährlich nicht nur der Aussicht wegen von Fremden 
aus allen Landen und Weltteilen, sondern auch von vielen Kranken zum Gebrauche 
einer Kur besucht, daher an vielen Punkten des Gebirgsstockes treffliche Gasthäuser 
errichtet sind, so daß man selbst aus dem Kulm die Bequemlichkeit der Städte ge- 
meßt. Aber höchst launisch ist das Wetter auf dem kleinen Gebirge. Beim 
heitersten Himmel umhüllt sich der Gipfel plötzlich mit einer Wolkenkappe, dichte 
Nebelgestalten mit wildem Treiben wirbeln die Schluchten und Abhänge herauf, 
seltsame Nebelbilder erscheinen (so daß z. B. die Gegenstände, auch der Beobachter 
selbst, auf einer gegenüberstehenden Wolkenschichte mit einem Regenbogen umgeben 
sich abschatten), uud plötzlich erhebt sich ein furchtbarer eisiger Sturm, und ein 
kalter Regenguß mit Hagelgeprassel folgt nach. Furchtbar erhaben sind aber die 
Gewitter da oben; zwar brechen sie meist unterhalb des Berggipfels aus, uud nur 
der Blitz fährt herauf, aber schauerlich ist das Donnern in diesen Gebirgen, der 
mächtige Anprall der Donnerschläge an den Felswänden, der Wiederhall in den
	        
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