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anhaltenden Winterfrost, bleibende Schneedecke auch außerhalb der
Gebirge. Am längsten und meisten wird der Boden in der Südwesthälfte
Mitteleuropas erwärmt; dort finden wir neben Weizen- und Spelt-
schon Maisbau; Schwalben und Störche treffen zuerst durch die bur-
gundische Pforte in der Oberrheinischen Tiefebene ein; an Rhein und
Neckar, Mosel und Main sehen wir unsere besten Weinlagen verteilt.
In Ostpreußen verkürzt sich dagegen die warme Jahreszeit bereits so
sehr, daß die Rotbuche wie aus dem nämlichen Grund in Rußland
nicht mehr fortkommt. Glücklich beschirmt durch das südliche Hoch-
gebirge gegen die nordafrikanisch heißtrockenen Sommer des Mittel-
meerbeckens, wohnen wir auch den atlantischen Hauptquellen des euro-
päischen Regens fem genug, um nicht eine Überfülle von Niederschlag
zu empfangen wie die Westseite der britischen Inseln, und doch auch
jenen wiederum nahe genug, um frei zu sein von der Steppendürre
Südosteuropas. Mitteleuropa entrollt uns somit auch landschaftlich
wie in seinem Wirtschaftsleben echt europäische Mannigfaltigkeit in
seinen grünen Bergen und Tälern, auf seinen ebenen Fluren voll saftiger
Weiden, fruchtbarer oder wenigstens den Bauernfleiß zur Genüge
lohnender Felder, umfangreicher Laub- und Nadelholzwaldung. An
Ertrag vom Getreidebau wie von der Viehzucht wird Europas Mittelland
innerhalb unseres Erdteils allein durch Rußland ob seiner Raumgröße
übertroffen, in Wein- und Obstsegen nähert es sich Frankreich und den
sonnigen Südlanden, in seiner industriellen Betätigung steht es bloß
noch hinter England zurück, seitdem es im 19. Jahrhundert mit immer
gesteigerter Energie den Vorzug gründlicher ausbeuten lernte, daß es
bei Anteilschaft an allen geologischen Formationen verfügt über ge-
waltige Rohstoffmassen an Metall, Kohlen und Salzen; seine Küsten-
linie mit trefflichen Häfen, namentlich den fast gänzlich eisfreien
Nordseehäfen, sichert ihm die Osteuropa versagten ununterbrochenen
Welthandelsbeziehungen durch Schiffahrt auf allen Ozeanen bis zu den
fernsten Erdenwinkeln.
Als ostfränkisches Reich löste sich Mitteleuropa staatlich aus dem
Verband der Monarchie Karls des Großen heraus, die es so eng mit
Frankreich verknüpft hatte. Seine Osthälfte war freilich nach der Völker-
Wanderung an die nachrückenden Slawen verloren gegangen, wurde
jedoch nachmals durch Zurückfluten des Deutschtums nach Osten zum
größten Teil wiedergewonnen. Einem losen Bund der das westliche
Mitteleuropa bewohnenden deutschen Stämme glich unser altes Reich,
da es vom Sachsenherzog Heinrich nach dem Aussterben der Karolinger
aus den ostfränkischen Trümmern organisiert ward. Es gliederte sich
durchaus ethnographisch: dem niedersächsischen Kernstamm im Norden
schlössen sich an die Thüringer und Hessen, die im Herzogtum Lothringen
vereinigten Franken des nördlichen Rhein- und des Scheldegebiets, also
die Bewohner der heutigen Rheinprovinz, Luxemburgs, Belgiens und