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West-Europa.
Da, wo die Mauern sich gegen die See schloffen, erhob sich das
alte Schloß, in seinen Trümmern vielleicht noch schöner als vor-
dem in den Tagen seines Glanzes. Die Stadt, die wir am frühen
Nachmittage betraten, machte mit ihren halbzerbrochenen Mauern,
ihren schattigen Straßen und altertümlichen Erkerhäusern eineu mächtigen
Eindruck, der uoch durch die Sountagsstille gesteigert wurde. Man
ging durch diese menschenleeren Straßen wie durch eine versunkene
Stadt und atmete doch die lebendige Kühle des Herbstnachmittages
uud sah über den Mauern das Grüne von der Sonne beglänzt, vom
Winde bewegt. — Als ein ehrwürdig freundliches Denkmal entfernter
Zeiten trat uns in einem engen Gäßchen der Plas Mawr entgegen, einst
Stammsitz der hochberühmteu Familie der Gwyuue. Er ist 1577
vou Robert Gwyuue von Gwydir gegründet worden. Als einen die
Sinnesart dieses edlen Mannes höchlich ehrenden Ausspruch trägt
das altersgeschwärzte Thorgesims, dem Eintretenden auch jetzt uoch
eine Mahnung zur Nachahmung, die Worte: „Wirke und dnlde!" —
Plas Mawr hat sich noch erträglich gut gehalten; ja, von außen
betrachtet sieht dieser alte Edelhof mit seinen drei Vorbauten, seinen
Giebeln und bleigefaßten Fensterchen noch ganz stattlich ans, obwohl
er jetzt vou einer Handwerkerfamilie bewohnt wird. In der Küche
fanden wir die Hausleute alle zusammen; sie saßen um deu schwarzen
Kamin, der gewiß noch derselbe war, wie vor vielen hundert Jahren.
Auch die braunen Holzschränke an den Wänden schienen aus uralter
Zeit zu seiu. Mau uahm uns mit Höflichkeit auf; die Hansfran
erhob sich, um uns die alte Wendeltreppe empor in das ehemals
prachtvolle Drawiug-Room zu führen. Über dein Kamin schimmerten
noch, zu beiden Seiten des Familienwappens die Buchstabeu R. Gr.,
die Initialen des Stifters. Aus der niedrigen weißen Zimmerdecke
traten Sarazenenköpfe mit furchtbaren Bärteu uud Schleifeu um den
Kopf und sonstiges Ungetüm, als springende und geflügelte Löwen,
Adler, Greife, Sphinxe hervor — hin und wieder auch ein Kreuz,
dessen Längenstrich oben uud unten die Rosen der Tudors, auf dem
Querstrich die prinzlichen Straußenfedern und dazwischen in den vier
Ecken Löwenköpfe trug. Der Schulmeister zeigte mir den Kamin, in
welchen nach Sitte des Waliser Volkes während der gnten Jahres-
zeit das aus der Druidenzeit noch im Geruch geheimer Kräfte
stehende Krant der Mistelstaude gestopft wird. „Das hält alle bösen
Geister ab", sagte er. —
Nicht so freuudlich au die vergaugeue Zeit erinnerte nns das
ehemalige Priestercolleg, ein uraltes Gebäude, noch ans der Zeit, wo