Full text: Geographische Charakterbilder aus Europa (Teil 2)

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West-Europa. 
Unmittelbar zur Rechten und Linken zieht auf der einen Seite der 
Louvre, auf der andern der Palast des Institut de France den 
Blick immer wieder in die nächste Nähe, um von da wieder auf und 
ab zu schweifen. Stromabwärts aber herrscht dann mehr und mehr 
epische Breite vor in dem ungeteilten Strom, den movernen und, 
was man auch vom Zopfstil sagen mag, imposanten Massen des 
Palastes der Ehrenlegion und des Palais Bourbon, hinter denen sich 
die Dome der polytechnischen Schule und des Jnvalidenhanses er- 
heben, während die grünen Wogen des Tnileriengartens und der 
„elyseischen Felder" dem Auge eiueu wohlthätigen, milden Ruhepunkt 
gewähren, dem auch der Obelisk von Luxor nicht fehlen dürfte, dessen 
Spitze über die herrlichen Ulmen hervorragt. 
Ich habe hier, wie gesagt, zunächst den Blick vom Pont des arts 
im Sinn, nicht weil ich ihn unbedingt als den bedeutendsten und 
schöusteu bezeichnen möchte, sondern weil es der zugänglichste und zu 
ungestörter Betrachtung geeignetste Punkt ist. Sonst wäre sehr die 
Frage, ob nicht der Blick stromaufwärts vou der Concordiabrücke 
vorzuziehen sei, wo mau zu beiden Seiten eine viel weitere und reichere 
Quaistrecke bis zur Cite und den breiten Strom mit zwei seiner schönsten 
Brücken hintereinander übersieht — dann rechts die ganze Fatzade 
des Palais Bonrbon und links den Concordiaplatz mit dem Obelisken 
und den beiden reichverzierten und in Wasserfülle strömenden Brunnen, 
dahinter aber die wahrhaft klassische Fa^ade der Madelaiue - Kirche, 
wo sich dann gleich der zweite charakteristisch schöne und bedeutende 
Zng der Physiognomie von Paris anschließt — die Boulevards. 
Aber mir reicht diese Hanptader, die Seine und ihre Inseln und 
Quais, vollkommen hin, wenn ich von der bedeutungsvollen Eigenart 
der Stadt spreche. Freilich gehört dazu auch die hiesige Atmosphäre, 
die Beleuchtung, der Himmel, von dem sich diese architektonischen 
Gruppen ablösen. Ich weiß nicht, ob es andern auch so gegangen; 
aber ich finde, daß die schönen Tage in Paris in einer eigentümlichen 
Harmonie mit der Physiognomie der Stadt in ihren schönen Teilen, 
also zumal den Quais und dem Strom und deu Boulevards, stehen. 
Dabei deuke ich gar nicht sowohl an sonnenhelle Tage, reinen, wölken- 
losen Himmel, sondern an den Wechsel von Licht und Schatten, die 
merkwürdigen Wolkeubilduugeu, in denen ich auch eiuen gewissermaßen 
dramatischen Charakter wiederfinde, wie er eben hier so durchaus au 
seiner Stelle ist. Dabei läuft manches Manirierte mit unter; aber 
im ganzen ist der Effekt durchaus charakteristisch. Wenn Dir das 
aber zu viel gesagt scheint, so komme und prüfe selber.
	        
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