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West - Europa.
Man macht viel Aufhebens von der Kathedrale von Orleans,
die gewöhnlich den größten Wunderwerken der gotischen Baukunst an
die Seite gestellt wird. Allein mir kommt die Kathedrale vor wie
der ärmliche Nachdruck eines Prachtwerkes.
Nicht der Plan, nicht die Form, ja auch nicht die Ausführung
ist es, welche dem Doine von Orleans einen untergeordneten Platz
unter den Werken der mittelalterlichen Baukunst anweisen, nein, es
fehlt dieser Kathedrale das architektonische Leben, eine Idee, welche
die Steinmasse überwältigt, welche aus Pfeilern uud Gewölben zu dem
Beschauer spricht. Ich denke mir, der Baumeister dieser Kirche hat
nach einem alten Risse gearbeitet, den er in irgend einer staubigen
Mappe gefunden, nach einem Risse, den er bloß mechanisch ver-
staudeu hat.
Ein zweites Kuustdeukmal, mit welchem Orleans prahlt, ist das
Standbild der Jeanne d'Arc, welches auf dem großen Marktplatze
steht. Ich habe niemals in Erfahrung bringen können, wer der Künstler
war, der diese Statue geschasseu hat; aber ich sehe, es war jedenfalls
ein gescheidter Streich von dem Manne, daß er aus seinem Namen
ein Geheimnis gemacht hat. Die Zeit der Entstehung des Stand-
bildes läßt sich auf deu ersten Blick mit Sicherheit bestimmen. Es
ist ein echtes Muster des Bonapartestils. Der Kuustgeist der uapo-
leonischeu Zeit hat mit freigebiger Haud seine Schätze der Unnatur,
der Ziererei, des frostigen Wesens, der Anmutlosigkeit über die Statue
der Jungfrau vou Orleans ausgeschüttet. Nur deu korporalhaften
Trotz vermisse ich, der fast alle Bildwerke aus jener Epoche ans-
zeichnet, uud dessen Typus auch auf dem iu Straßburg errichteten
Standbilde Klebers mit brutaler Wahrheit wiedergegeben ist.
Von Orleans fuhren wir zu Wagen weiter. Die Landstraße
läuft bis Revers fortwährend die Loire entlang, durch eine Landschaft,
die nicht schön und nicht häßlich genannt werden kann, und in der
selten ein merkwürdiges Werk der Natur oder der Menschenhand den
Blick aus sich zieht. Hinter Nevers kreuzt man die Loire, die man
später 90 km weiter südlich bei Roanne wiederfindet. Statt der
Loire begleitet jetzt der Allier unfern Wagen über Moulins hinaus,
bis iu die Nähe von la Paliffe. Hier wird der Charakter des Landes
heiterer uud maunigfaltiger. Getreidefelder wechseln mit Weinbergen,
mit Wiesen und Wäldern. Die Straße läuft zuweilen über Anhöhen
hinweg, die man fast Berge nennen könnte, oder fie senkt sich in
freundliche kleine Thäler hinunter, welche durch einen Bach oder durch
einen Teich belebt werden. Bald zeigt sich das Gebirge von Forez