Full text: Geographische Charakterbilder aus Europa (Teil 2)

174 
West - Europa. 
Man macht viel Aufhebens von der Kathedrale von Orleans, 
die gewöhnlich den größten Wunderwerken der gotischen Baukunst an 
die Seite gestellt wird. Allein mir kommt die Kathedrale vor wie 
der ärmliche Nachdruck eines Prachtwerkes. 
Nicht der Plan, nicht die Form, ja auch nicht die Ausführung 
ist es, welche dem Doine von Orleans einen untergeordneten Platz 
unter den Werken der mittelalterlichen Baukunst anweisen, nein, es 
fehlt dieser Kathedrale das architektonische Leben, eine Idee, welche 
die Steinmasse überwältigt, welche aus Pfeilern uud Gewölben zu dem 
Beschauer spricht. Ich denke mir, der Baumeister dieser Kirche hat 
nach einem alten Risse gearbeitet, den er in irgend einer staubigen 
Mappe gefunden, nach einem Risse, den er bloß mechanisch ver- 
staudeu hat. 
Ein zweites Kuustdeukmal, mit welchem Orleans prahlt, ist das 
Standbild der Jeanne d'Arc, welches auf dem großen Marktplatze 
steht. Ich habe niemals in Erfahrung bringen können, wer der Künstler 
war, der diese Statue geschasseu hat; aber ich sehe, es war jedenfalls 
ein gescheidter Streich von dem Manne, daß er aus seinem Namen 
ein Geheimnis gemacht hat. Die Zeit der Entstehung des Stand- 
bildes läßt sich auf deu ersten Blick mit Sicherheit bestimmen. Es 
ist ein echtes Muster des Bonapartestils. Der Kuustgeist der uapo- 
leonischeu Zeit hat mit freigebiger Haud seine Schätze der Unnatur, 
der Ziererei, des frostigen Wesens, der Anmutlosigkeit über die Statue 
der Jungfrau vou Orleans ausgeschüttet. Nur deu korporalhaften 
Trotz vermisse ich, der fast alle Bildwerke aus jener Epoche ans- 
zeichnet, uud dessen Typus auch auf dem iu Straßburg errichteten 
Standbilde Klebers mit brutaler Wahrheit wiedergegeben ist. 
Von Orleans fuhren wir zu Wagen weiter. Die Landstraße 
läuft bis Revers fortwährend die Loire entlang, durch eine Landschaft, 
die nicht schön und nicht häßlich genannt werden kann, und in der 
selten ein merkwürdiges Werk der Natur oder der Menschenhand den 
Blick aus sich zieht. Hinter Nevers kreuzt man die Loire, die man 
später 90 km weiter südlich bei Roanne wiederfindet. Statt der 
Loire begleitet jetzt der Allier unfern Wagen über Moulins hinaus, 
bis iu die Nähe von la Paliffe. Hier wird der Charakter des Landes 
heiterer uud maunigfaltiger. Getreidefelder wechseln mit Weinbergen, 
mit Wiesen und Wäldern. Die Straße läuft zuweilen über Anhöhen 
hinweg, die man fast Berge nennen könnte, oder fie senkt sich in 
freundliche kleine Thäler hinunter, welche durch einen Bach oder durch 
einen Teich belebt werden. Bald zeigt sich das Gebirge von Forez
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.