Full text: Deutsches Lesebuch für Handelsschulen und verwandte Anstalten

60. London Docks. 203 
als er will. Sonst wäre es ihm auch nicht möglich, seinem Käufer 
die Ware vorzuführen, die er feil hat. Und so kommt es auch, daß 
Fremde, die am allerwenigsten Weinkäufer sind, sich von irgend einem 
Weinhändler ohne viel Mühe einen solchen Tasting Order verschaffen, 
der nicht immer, wie es heute bei uns der Fall ist, bloß zur Be— 
friedigung von Wißbegierde dient, sondern ganz ehrlich benutzt wird, 
um mit guten Freunden zu einem tüchtigen Trunke des ausgesuchtesten 
Rebensaftes zu gelangen. 
In das Innere der Warenhäuser werfen wir nur hin und wieder 
einen schüchternen Blick, es gelüstet uns für heute nicht mehr, Wande— 
derungen zwischen endlosen Reihen von Kisten und Ballen zu unter⸗ 
nehmen, aber im Vorübergehen können wir uns doch nicht erwehren, 
unser Auge über die fabelhaften Vorräte von — ne— 
von Seide aller Länder, von Farbhölzern, Tierhörnern, Baumwolle, 
Baumstämmen, Gewürzen aller Art, Häuten, Leder, Zucker, Kaffee 
u. s. w. streifen zu lassen. Es ist, als ob die Ernte aller Erdstriche 
unverkürzt nach diesen Lagerplätzen gebracht worden wäre, und so 
groß sind die aufgehäuften Warenmengen, und so viel geht von Zucker, 
Kaffee, Spezereien und dergl. beim Offnen und Umpacken der Kisten 
und Fässer verloren, daß das Kehricht der London Docks für eine 
namhafte Summe verpachtet werden kann und sein Pãchter in wenigen 
Jahren ein reicher Mann geworden sein soll. 
So reiht sich ein Warenhaus ans andere, und vor ihnen ächzen 
Hunderte von eisernen Kränen unter ihrer Last. Eine zahllose Menge 
von Arbeitern, Zimmerleuten, Faßbindern, Maklern und Dock⸗ 
beamten rennt auf und ab, aus und ein, und im großen Wasserbecken 
dicht bis an die Umrandung aneinander gedrängt liegen die Schiffe, 
auf denen Matrosen und Lastträger mit Ameisentätigkeit beschäftigt 
sind, Waren an Land oder an Bord zu bringen. Hier vereinigt 
fich Dock- und Matrosenleben zu einem malerischen Ganzen. An 
keinem Punkte der Themse sind die Fahrzeuge so dicht aneinander ge⸗ 
drängt, nirgends sieht man das Netzwerk der Takelage so dicht durch— 
einander gewebt, in keinem anderen Hafenbedcen der Welt treiben 
sich so viele verschiedenartige Volksangehörige herum. Neben dem 
Holländer ankert der Kauffahrer aus Brasilien mit Kaffee und Farbe— 
hölzern vollgeladen, der Däne bringt sein Hornvieh ans Land, belgische 
uͤnd französische Schiffe laden Glas, Leder, Eier, Obst und Gemüse 
aus; russische und deutsche Ostseefahrer haben ihre Getreideladungen 
bereits in die Warenräume untergebracht und warten auf Rückfracht; 
englische Fahrzeuge aus Indien, Australien, Kanada und dem Kap 
ziehen durch die geöffneten Schleusentore; und wer eben keine Arbeit 
hai, vergnügt sich in seiner Weise, kocht, ißt, trinkt, sitzt oder träumt
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.