Full text: Landschafts-, Völker- und Städtebilder

38 
2. Physiognomie der Stadt. 
Der Ankömmling findet die Stadt klein, und sie ist es; denn sie hat 
nur 60 000 Einwohner; er findet sie auch ohne monumentale Gebäude. 
Ihr Antlitz erzählt ihre Geschichte, und sie hat eine Geschichte. Sie ist 
kein Pilz, von gestern auf heute emporgeschossen; ihr Wachstum umfaßt 
mehr als zwei Jahrhunderte. Wir drängen uns durch di? an das Gestade 
stoßenden belebten Gassen und erreichen alsbald das Stadtviertel der Ge¬ 
schäftsleute. Drei oder vier parallele Straßen führen zu dem Mittelpunkte 
der Stadt. Allenthalben Magazine, elegante Kaufläden, eine oder zwei 
etwas pompös aussehende Banken. Hier herrscht immer reges Leben. Ohne 
die Schwarzen, die man überall sieht, würde man sich in Europa glauben. 
Die Capstadt verändert ihre Züge in dem Maße, als sie sich vom 
Gestade entfernt. Zuerst Seehasen, dann Handelsstadt, dann offizielles 
und politisches Centrum mit dem Gouvernements-Hause und dem Parla¬ 
ments-Gebäude. Ein wenig weiter wird die Stadt zum Garten: der 
botanische Garten, der Garten des Gouverneurs, der öffentliche Garten. 
3. Die Umgebung. 
Noch einige Schritte weiter findet man sich plötzlich und ganz uner¬ 
wartet auf dem üppigen Rasen einer von Fichten umrahmten großen Wiese. 
Ringsum ländliche Einsamkeit und Stille. Hinter uns ein Vorhang von 
Bäumen, über welche schlanke Kirchtürme in die Luft ragen. Im Süd¬ 
westen klettern die Häuser die ersten Staffeln des Löwenkopfs hinan. Es 
lohnt sich der Mühe, die steilen Gassen dieser Vorstadt zu erklettern. Da 
liegt die Stadt und die See zu unsern Füßen ausgebreitet, und jenseits 
der Bucht gewahren wir das „Blaue" und das „Hottentottengebirge" und 
mehr oder weniger überall den Tafelberg. Vergeblich wendet man die 
Augen ab. Die Mauer von Granit fesselt den Blick. „Da bin ich", 
sagt sie, „da bleibe ich!" Sie würde die Harmonie des Blickes stören 
ohne den vermittelnden Einfluß des Oceans, dessen unermeßlicher Horizont 
das Gleichgewicht aufrecht erhält. 
4. Die Bewohner. 
Das Gestade und die anliegenden Gassen sind belebt von Matrosen, 
Schiffern, Fischern, die ihren Fang feilbieten, Arbeitern aus St. Helena, 
alle mit mehr oder weniger dunkler Hautfarbe, ein sonderbares Unter¬ 
einander reiner und gemischter Rassen, Abkömmlinge der ehemaligen Herrn 
des Bodens, der Hottentotten, Kaffern; Neger aus Namaqua- und 
Damaraland, Malayen. 
In dem Viertel der Geschäftsleute herrscht der Weiße vor, aber der 
Schwarze verschwindet nie gänzlich. Nirgends und niemals verliert man 
ihn aus den Augen; er ist der Herr des Kontinents. Die Vorstadt am 
Löwenkopf ist hauptsächlich von Farbigen bewohnt. Gegen Abend leeren 
sich die Gassen; jedermann, Chef und Commis, Vorstände unv Unter¬ 
gebene, Bankiers, Kaufleute, jeder, der kann, wohnt am Lande. Da füllen
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.