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468. Der Kürbis und die Eichel.
Ein überkluger Städter, der eine kleine Reise aufs Land machte,
lag einmal in dem Schatten einer Eiche und betrachtete eine Kürbis-
staude, die an dem nächsten Gartenzaune emporwuchs. Da schüttelte
er den Kopf und sagte: „Hm! Hm! Das gefällt mir nicht, daß dre
kleine, niedrige Staude eine so große, prächtige Frucht trägt, der größe-
starke Eichbaunl aber nur so kleine, armselige Früchte hervorbringt.
Wenn ich die Welt erschaffen hätte, so hätte mir der Eichbaum mit
lauter großen, gelben, zentnerschweren Kürbissen prangen müssen.
wäre dann eine Pracht zum Ansehen gewesen!" Kaum hatte er dieses
gesagt, so siel eine Eichel herab und traf ihn so stark ans die Nase,
daß sie blutete. „O weh!" rief jetzt der erschrockene Mann, „da habe
ich für meine Naseweisheit einen derben Nasenstüber bekommen.
Wenn diese Eichel ein Kürbis gewesen wäre, so hätte er mir die Nase
zerquetscht."
Mit Weisheit und mit Vorbedacht
hat Gott die ganze Welt gemacht. Chr. Schmid.
469. Die Kuh.
In einem Dorfe wohnte eine Witwe mit fünf Kindern, die war
sehr arm und ernährte sich kümmerlich mit ihrer Hände Arbeit. Es
gelang ihr anfangs zwar wohl, und sie sonnte jährlich von ihrem
kleinen Felde ziemlich einernten; am übrigen Hausbedarf fehlte es auch
nicht gänzlich. Aber eines Jahres mißriet die Frucht, dazu starb ihre
einzige Kuh, so daß sie in große Not kam mit ihren fünf Kindern.
Da ward sie sehr mißmütig und sprach: „Betteln mag ich nicht,
Arbeit und Fleiß nützen mir nichts; es wäre mir besser, ich stürbe."
Als sie so dasaß in ihrem Kummer, hörte sie von ferne das Geläute
aus dem Dorfe, und es war ihr ein erquickendes Getön. Denn sie
dachte: „So wird man auch mir bald zu Grabe läuten!" — Darauf
trat ihr Mägdlein in die Kammer und sprach: „Mutter, sie läuten
im Dorfe; willst du nicht zur Kirche gehen? Ich will das Haus wohl
hüten!" — So sprach das Mägdlein, ihre Tochter; denn die Mutter
pflegte alle Sonntage zur Kirche zu gehen und fröhlicher heimzukehren.
Darum dachte sie bei den Worten ihres Kindes: „Warum sollt' ich
nicht auch heute hingehen in den bösen Tagen, wie ich in den guten
getan habe?" So ging sie, obwohl mit schwerem Herzen, zur Kirche
und setzte sich hinter einen Pfeiler; denn sie schämte sich ihres Unmuts.
Darauf, als der Gesang anfing, vermochte sie kaum mitzusingen vor
heimlichein Weinen, und sie konnte ihre Tränen kaum verbergen. Und
als der Pfarrer von der Liebe und Güte Gottes redete, war ihr ein
jedes Wort erwecklich und rührend. — Als nun die Kirche aus war,
ging sie mit demütigem Herzen getröstet nach Hanse und sagte: „Hab'
ich doch das Meinige getan, so wird ja auch wohl der Vater es
wohlmachen und das Seintge tun." Und vor allem war ihr ein
Sprüchlein aus der Predigt zu Herzen gegangen: „Durch Stillsein
und Hoffen werdet ihr stark sein!" — „Gott," sagte sie, „hat meine
Tränen aeseden: er wird sie stillen, wenn es gut ist."