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XV
Der einzige Weinstock schwieg und sank zu Boden. „Mir,“
sprach er zu sich selbst, „scheint alles versagt zu sein, Stamm
und Mte, Blüten und Frucht; aber so, wie ich bin, will ich
noch hoffen und warten.“ Er sank darnieder, und seine Zweige
weinten.
Nicht lange wartete und weinte er; siehe, da trat die
Gottheit der Erde, der freundliche Mensch, zu ihm. Er sah
ein schwaches Gewächs, ein Spiel der Lüfte, daäs unter sich
sank ünd Hilfe begehrte. Mitleidig richtete er's und schlang
den zarten Baum an seine Laube. Froher spielten anjeßt die
Lüfte mit seinen Reben, die Glut der Sonne durchdrang ihre
harten, grünenden Körner, bereitend in ihnen den süßen Saft,
den Trank für Götter und Menschen. Mit reichen Trauben
geschmückt, neigte bald der Weinstock sich zu seinem Herrn
nieder, und dieser kostete seinen erquickenden Saft und nannte
ihn seinen Freund
Die stolzen Bäume beneideten jetzt die schwache Ranke;
denn viele von ihnen standen schon entfruchtet da; er aber
freute sich seiner schlanken Gestalt und seiner ausharrenden
Hoffnung. Darum erfreut sein Saft noch jetzt des Menschen
Herz und hebt den niedergesunkenen Mut empor und erquicket
den Betrübten.
Verzage nicht, Verlassener, und harre duldend aus! Im
unansehnlichen Rohre quillt der süßeste Saft; die schwache
Rebe bringt Begeisterung und Entzückung hervor.
Vergl. Mittelstufe S. 48: Die Schnecke, der Esel und das Pserd. — S. 49:
Die drei Freunde.
Oberstufe S. 9; Denksprüche. — S. 14: Alles zum Guten. — S. 88: Der
gerettete Jüngling. — S. 454; Die wiedergefundenen Söhne. — S. 518; Die
ewige Bürde.
16. Gottfried August Bürger,
geb. den 31. Dezember 1747 zu Molmerswende im Unterharz, besuchte die Stadtschule
zu Aschersleben, 1762 das Hallesche Pädagogium, studierte 1764 in Halle Theologie,
1768 in Göttingen die Rechte, ward 1772 Justizamtmann in Altengleichen bei Göt⸗
tingen, wurde Dozent und 1789 außerordentlicher Professor in Göttingen und starb
daselbst nach herben Erfahrungen in zerrütteten Verhältnissen am 8. Juni 1794. —
Balladen, Lieder u. a.
Die Kuh.
Frau Magdalis weint auf ihr letztes Stück Brot,
sie konnt' es vor Kummer nicht essen.
Ach! Witwen bekümmert oft größere Not
als glückliche Menschen ermessen.