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anzugreifen wagt, — er hat's mit einem hartnäckigen, besonnenen und
entschlossenen Kämpfer zu thun. Am meisten haben's die Buben auf die
großen Raubvögel abgesehen; wissen sie das Nest eines solchen, so ist's
um die junge Brut geschehen. Aber auch den Alten gegenüber stehn sie
ihren Mann.
3. Nicht mindere Besonnenheit, Ausdauer und Gewandtheit
entwickeln die Geißbuben, wenn eins ihrer Tiere sich verstiegen hat,
d. h. durch einen Sprung auf einen Felsensatz gekommen ist, von dem
es weder vor noch zurück kann. Denn wo nur irgend eine grüne Stelle
lockt, klettern die Ziegen wie die Schafe hin, erblicken dann von der
Höhe unter sich abermals neue Rasenbänder und springen von Absatz zu
Absatz, oft klafterhoch, hinab, bis sie nicht weiter können. Da wird es
dann Aufgabe des hütenden Knaben, das gefangene Tier zu lösen, und
hierbei zeigt sich ganz die zähe, unnachgiebige, störrische Natur eines
echten Geißbuben. Und kämen die Adler, die, durch das Klagegeschrei
der Ziege aufmerksam gemacht, ihn in der Höhe umschweben, — eher
ließe sich der Bube von ihnen in die Tiefe stürzen, als daß er seine
Geiß aufgäbe.
4. Im Hochgebirge bleiben die Schafe oft monatelang sich selbst
überlassen und nagen die vereinzelt an den Felsen hangenden Rasen¬
stellen ab. Es genügt dann, daß der Eigentümer vom Thal aus täglich
einigemal durchs Fernrohr seine Schafe beobachtet und überzählt. Entdeckt
er nun, daß sich einige derselben verstiegen haben, so steigt er auf die
Höhe des Gebirges, von der aus er glaubt, senkrecht von oben herab
den Schafen beikommen zu können. Der Entschlossenste, meist ein Geißbub,
wird dann am Seil hinabgelassen. Hat er die Tiere erreicht, so kommt
erst das eigentlich Lebensgefährliche der Aufgabe. Aus schmaler Felsen¬
kante muß er das Tier ergreifen, nach sich ziehen oder angesichts des
oft schaurigen Abgrundes das Tier sich über den Kopf heben und so
belastet, nur mit einer freien Hand zum Anklammern, den Rückweg
antreten, bis er das Seil erreicht, woran dann das wiedergewonnene
Herdenhaupt gebunden und emporgezogen wird. Dieses Manöver
setzen solche Buben drei-, vier- und mehrmal fort, bis sie ihren Zweck
erreicht haben.
6. Betrachten wir die Lebensweise unserer Buben näher. Der
Geißer treibt gewöhnlich morgens sehr früh vom Thal aus eine große
Menge Milchgeißen ins Gebirge hinauf. Er hat sein näschiges, neu¬
gieriges, überall hiukletterndes Hornvölkleiu gut in Ordnung und kommt
mit demselben viel rascher in die Höhe hinauf, als man glauben sollte.
Ehe die Sonne nur einigermaßen hoch steht, ist er schon mehrere Stunden
weit von seinem Dorfe. Dort überläßt er die Herde sich selbst, legt sich
an einem ihm bequemen Platze nieder und verträumt den Tag. Hat
er Hunger, so muß ein Stück hartes, trockenes Gerstenbrot und etwas
Käse ihm zur Sättigung dienen; hat er Durst, so zieht er die erste
beste Ziege herbei, legt sich unter ihr Euter und melkt in den Mund
hinein, daß es schäumt. Rückt dann der hohe Mittag heran, der mit
sengender Glut die Felsenwände erhitzt, so sucht der Knabe für sich
und seine Herde ein schattiges Plätzchen, wo alle zusammen Mittagsruhe