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A Erzählende Prosa. II. Sagen.
Hildens, vorbereitet und ins Werk gesetzt. Auf Siegfrieds Rat hatte
Günther nur ein mäßiges Gefolge mitgenommen, in welchem natürlich
der vielerfahrene Hagen von Tronje nicht fehlen durfte.
Als sie zu Schiffe rheinabwärts und über die See nach dem Jsen-
steine gefahren und der stolzen Brunhilde gemeldet waren, wendete sich
diese vor allen andern an den ihr bekannten Siegfried und fragte nach
seinem Begehr. Aber Siegfried sagte: „Thut mir nicht zu große Ehre
an, Herrin; hier ist mein Herr, der edle König Günther von Burgunden-
land, ich aber bin nur sein Dienstmann.".
Da fragte Brunhilde den König Günther, und als dieser seinen
Wunsch aussprach, ihre Kampfspiele mit ihr um den Preis ihrer Hand
oder seines Lebens zu bestehen, sagte sie rasch entschlossen: „Euch ge¬
schehe nach Eurem Willen!" und gab Befehl, ihre Waffen zu bringen.
Als nun die Diener Brunhildens einen ebenso gewaltigen als
kostbaren Schild, einen riesigeil Speer und einen überaus wuchtigen
Wurfstein brachten, erschraken die Freunde Günthers nicht wenig und
fürchteten für sein Leben, und er selbst versprach sich wenig Gutes von
dem Kampfe, als er sah, wie die stolze, streitbare Jungfrau sich rüstete
und die Ärmel des Gewandes zum Kampfe aufschlug.
Aber Siegfried war unvermerkt nach dem Schiffe gegangen, hatte
dort die Tarnkappe aufgesetzt und trat nun unsichtbar dicht an Günther
heran und flüsterte dem hocherstaunten zu: „Fürchtet Euch nicht, ich
bin Siegfried, der zu Euch spricht, ich will Euch zum Siege verhelfen.
Nehmt Ihr nur die Gebärde des Kämpfenden an und überlasset mir
die That, so wird es Euch an nichts fehlen."
Da faßte Günther wieder Mut und that, wie Siegfried geraten
hatte. Inzwischen war der Kreis gebildet, in welchem der Kampf vor
sich gehen sollte, und als alles bereit war, ergriff Brunhilde den
riesigen Speer und warf ihn mit furchtbarer Gewalt gegen den Schild
Günthers, der gewiß durch den überstarken Wurf zum Fallen ge¬
kommen wäre, wenn er nicht durch Siegfrieds unsichtbare Kraft und
Hilfe gehalten und gestützt worden wäre. So aber strauchelte er nur
ein wenig und zog scheinbar den Speer aus seinem Schilde, das heißt,
er nahm die Gebärde des Herausziehens an, während Siegfried ihn in
der That herauszog, der nun auch den Speer gegen Brunhildens
Schild mit solcher Kraft zurückschleuderte, daß sie zu Boden sank.
Da rief Brunhilde, die nicht wissen konnte, daß Siegfried den Speer
geworfen hatte, wider Willen die Kraft des Gegners anerkennend:
„Habt Dank, König Günther, für Euern starken Schuß; laßt uns nun
sehen, wer im Wurf und Sprung Meister ist."
Und sie nahm den wuchtigen Stein, schleuderte ihn zwölf Klafter
fort und sprang weit in kühnem Kriegssprunge noch darüber hinaus;
aber Siegfried, der den Stein ergriff, schleuderte ihn noch weiter und