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147. Das fremde Rind. 
Franz von Pocci. Das Original hat nicht vorgelegen. 
In einem kleinen Häuschen am Eingänge eines Waldes lebte ein 
armer Tagelöhner, der sich mit Holzhauen mühsam sein Brot ver¬ 
diente. Er hatte ein Weib und zwei Kinder, die ihm fleißig bei der 
Arbeit halfen. Der Knabe hieß Valentin und das Mädchen Marie, 
und die waren gehorsam und fromm zu der Eltern Freude und Trost. 
Als die guten Leute nun eines Winterabends, da es draußen 
schneite und wehte, beisammen saßen und ein Stücklein Brot ver¬ 
zehrten, dafür Gott von Herzen dankten, und der Vater noch aus den 
biblischen Geschichten vorlas, da pochte es leise am Fenster zu un¬ 
gewohnter Stunde, und ein feines Stimmchen rief draußen: »O laßt 
mich ein in euer Haus, ich bin ein armes Kind und habe nichts zu 
essen und kein Obdach und muß fast vor Hunger und Frost um¬ 
kommen ! o laßt mich ein!« 
Da sprangen Valentin und Marieehen vom Tische auf, öffneten 
die Thür und sagten: »Komm herein, armes Kind! wir haben selber 
nicht viel, aber doch immer mehr als du. und was wir haben, das 
wollen wir mit dir teilen.« Das fremde Kind trat ein und wärmte 
sich die erstarrten Glieder am Ofen, und die Kinder gaben ihm, 
was sie hatten, zu essen und sagten: »Du wirst wohl müde sein, 
komm, lege dich in unser Bettchen, wir können auf der Bank schla¬ 
fen.« Da sagte das fremde Kind: »Dank es euch mein Vater im 
Himmel!« Sie führten den kleinen Gast in ihr Kämmerlein, legten 
ihn zu Bett, deckten ihn zu und dachten bei sich: »0 wie gut haben 
wir es doch! Wir haben unsere warme Stube und unser Bettchen; 
das arme Kind aber hat gar nichts als den Himmel zum Dach und 
die Erde zum Lager.« Als nun die Eltern zur Ruhe gingen, legten 
sich Valentin und Marie auf die Bank beim Ofen und sagten zuein¬ 
ander: »Das fremde Kind wird sich nun freuen, daß es warm liegt. 
Gute Nacht u< \ 
Es mochten aber die guten Kinder kaum einige Stunden ge¬ 
schlafen haben, als die kleine Marie erwachte und ihren Bruder leise 
weckte, indem sie zu ihm sprach: »Valentin, Valentin, wach auf, 
wach auf! Höre doch die schöne Musik vor den Fenstern!« Da 
rieb sich Valentin die Äuglein und lauschte. Es war aber ein wun¬ 
derbares Klingen und Singen, das sich vor dem Hause vernehmen 
ließ, und wie mit Harfenbegleitung hallte es: 
1. 0 heiliges Kind! 2. Du liegst in Ruh, 
Wir grüßen dich 
mit Harfenklang 
und Lobgesang. 
du heil’ges Kind! 
Wir halten Wacht 
in dunkler Nacht.
	        
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