110 Zeugnisse zum deutschen Ausstieg. 1V/1780—1815
sie nach meinen Begriffen tun sollen, sondern davon, was ich
tun darf, um sie zu bewegen, daß sie es tun. Aber ich kann
unmittelbar nur auf ihre Überzeugung und auf ihren Willen
wirken Wollen, soweit die Ordnung der Gesellschaft und ihre
eigne Einwilligung es verstattet, keineswegs aber ohne ihre
Überzeugung und ohne ihren Willen auf ihre Kräfte und Ver-
Hältnisse. Sie tun auf ihre eigne Verantwortung, was sie tun,
wo ich es nicht ändern kann oder nicht darf, und der ewige
Wille wird alles zum Besten lenken. Mir ist mehr daran ge-
legen, daß ich ihre Freiheit ehre, als daß ich verhindere oder
aufhebe, was mir beim Gebrauche derselben böse scheint.
*
Ich erhebe mich in diesen Standpunkt und bin ein neues
Geschöpf, und mein ganzes Verhältnis zur vorhandenen Welt
ist verwandelt. Die Fäden, durch welche bisher mein Gemüt
an diese Welt angeknüpft war, und durch deren geheimen Zug es
allen Bewegungen in ihr folgte, sind auf ewig zerschnitten, und
ich stehe frei und, selbst meine eigne Welt, ruhig und unbewegt
da. Nicht mehr durch das Herz, nur durch das Auge ergreife
ich die Gegenstände und hänge zusammen mit ihnen, und dieses
Auge selbst verklärt sich in der Freiheit und blickt hindurch durch
den Irrtum und die Mißgestalt bis zum Wahren und Schönen,
so wie auf der unbewegten Wasserfläche die Formen rein und
in einem milderen Lichte sich abspiegeln.
D A. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling [„Die
sof'ao'f. SBeltdier"].
Alles, schlechthin alles, auch das von Natur Äußerliche, muß
uns zuvor innerlich geworden sein, ehe wir es äußerlich oder
objektiv darstellen können. Wenn im Geschichtschreiber nicht
selbst die alte Zeit erwacht, deren Bild er uns entwerfen will,
so wird er nie wahr, nie anschaulich, nie lebendig darstellen.
Was wäre alle Historie, wenn ihr nicht ein innerer Sinn zu
Hllfe käme? Was sie bei so vielen ist, die zwar das meiste
von allem Geschehenen wissen, aber von eigentlicher Geschichte